Neuere und neueste Mitten

Eine fragmentierte Gesellschaft bringt keine mehrheitsfähigen politischen Projekte hervor. Das betrifft auch Merkels »Neuen Konservatismus«. von anton landgraf

Alle wollen dort hin, wo die Mehrheit zuhause und die Macht zu holen ist. »Wir sind die gesellschaftliche Mitte«, könnte als Überschrift über allen Programmen der so genannten Volksparteien stehen. Entsprechend wird es in der Mitte immer enger, während die Unterschiede zwischen den Parteien schwinden.

Das haben mittlerweile auch die Wähler entdeckt, sie legen bisweilen merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag. Viele beteiligen sich gar nicht mehr an dem Spektakel – und repräsentieren damit die größte Gruppe unter den potenziellen Wählern.

Dabei wünschen sich die Parteien nichts sehn­licher als stabile Verhältnisse und rätseln gleichzeitig, wie diese überhaupt noch zustande kommen sollen. Denn der Wunsch nach klaren politischen Mehrheiten steht im umgekehrten Verhältnis zur Fragmentierung der Gesellschaft. Während Hundert­schaften von »Spin Doctors«, Politikberatern und Soziologen danach trachten, mehrheitsfähige Gruppen für ihre jeweiligen Auftraggeber ausfindig zu machen, zerfallen und individualisieren sich die Milieus, die sie ansprechen sollen.

Die Entwicklung überrascht viele. Vor nicht allzu langer Zeit galten Wähler schließlich noch als trans­parente Wesen. Jede Partei repräsentierte eine klar definierte soziale Schicht. Die Arbeiter stimmten sozialdemokratisch und träumten vom sozialen Auf­stieg, der Mittelstand dachte konservativ, Unternehmer wählten liberal. Das änderte sich, als es Willy Brandt gelang, mit dem Motto »Mehr Demokratie wagen« eine ganze Generation anzusprechen, auch wenn der Aufbruch schließlich in Berufsverbote und Rasterfahndung mündete. Sein Versprechen auf sozialen Aufstieg erreichte weit über das sozialdemokratische Stammpublikum hinaus die sozialen Unterschichten, zumindest, bis die Massen­arbeitslosigkeit begann.

Als Antwort auf die Wirtschaftskrise propagierte Helmut Kohl wenig später die »geistig-moralische Wende«, eine Art Rückbesinnung auf bürgerliche Moralvorstellungen. Ordnung, Leistungsbereitschaft und Disziplin sollten die unkalkulierbare Ökonomie wieder bändigen. Damit erzielte er weit über seine eigene Klientel hinaus Erfolge. Wem der soziale Auf­stieg mittlerweile gelungen war, der wollte den Status quo erhalten.

Langsam verschwammen so die politisch eindeutig definierten Milieus. Wer von unten kam, wollte den umgekehrten Weg nicht mehr gehen, wählte mal links, mal rechts, je nachdem, wer mehr versprach. Immer schneller erwiesen sich die Aussichten für eine bürgerliche Mehrheit als trügerisch, und genau­so abrupt änderte sich die Präferenz der Wähler.

Wie schnell sich die Konzepte für eine neue Mehrheit blamieren können, musste Gerhard Schröder schmerzlich erfahren. Sein Pro­jekt der »Neuen Mitte« war inspiriert von der »New Economy«, dem Glauben an ein immer währendes wirtschaftliches Wachstum, das durch die wundersame Entwicklung an den Börsen getragen wurde. Die Angehörigen dieser »Neuen Mitte« waren gebildet, erfolgreich und hedonistisch – und hatten die Nase voll vom Mief der Ära Kohl. Sie glaubten an den liberalen Kapitalismus, an steigende Aktien und unbeschwerten Konsum. Doch dieses Projekt einer neuen bürger­lichen Mehrheit zerbröselte so schnell, wie es gekommen war. Kaum war die »Neue Mitte« ausgerufen, platzte die Börsenblase – und die viel gepriesene Generation der Start-up-Unternehmer stand plötzlich auf der Straße.

Die Suche nach neuen Mehrheiten erweist sich mittlerweile als ein hoffnungsloses Unterfangen. Kaum ist das »Projekt« gezimmert, die »Wende« oder die »Neue Mitte« ausgerufen, ist der soziale Zusammenhang schon wieder verschwunden, an den das »Projekt« ursprünglich gerichtet war. Für die so genannten Volksparteien wird es immer schwieriger, schichtübergreifende Programme anzubieten: Zu heterogen, un­übersichtlich und widersprüchlich sind die Interessen.

Die bürgerlichen Parteien sind Opfer ihres eigenen Systems. Sie wollen die Gesellschaft modernisieren und vor allem die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Gleichzeitig rechnen sie mit dem Status quo: Damit ihre »Vi­sionen« funktionieren, bedarf es dauerhafter sozialer Strukturen. Genau dies ist aber im flexiblen Kapitalismus immer weniger der Fall. Er unterwirft alle Lebens­bereiche und beschleunigt das Tempo un­aufhörlich. Alle sollen effizienter werden und die persönliche Lebensplanung den wirtschaftlichen Erfordernissen unterordnen.

Nicht viel anders als Schröders »Neuer Mitte« ergeht es daher dem »Neuen Konservatismus«, mit dem Angela Merkel angetreten ist. Wie ihre konserva­tiven Vorgänger appelliert auch sie an traditionelle bürgerliche Werte, um den Widerspruch zwischen ökonomischer Modernisierung und sozialem Zusammenhalt zu lösen. So glauben prominente konservative Denker wie etwa der Verfassungsrichter Udo Di Fabio oder der Historiker Paul Nolte ernsthaft, dass moralische Defizite die gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme verursacht haben. Doch ihre Vorschläge – wie etwa die Rückbesinnung auf die intakte deutsche Familie – vertragen sich nicht gut mit dem stetigen Wandel, der von allen gefordert wird. Die fröhliche Kinderschar ist mit dem wachsendem beruflichen Druck und den unsicheren Arbeitsverhältnissen kaum noch zu vereinen.

Der Appell an die bürgerlichen Werte verhallt aber vor allem deswegen ungehört, weil sich immer weniger zu dieser traditionellen bürgerlichen Mitte zählen, dafür umso mehr zur neuen Unterschicht. Die Zahl derjenigen, die ohne Ausbildung und Perspektive leben, wächst kon­tinuierlich. Früher galt dies nur für einen besonders marginalisierten Teil der Gesellschaft. Heute kann es alle treffen: den Facharbeiter – allein in der Industrie wurden hunderttausende Jobs abgeschafft oder ausgelagert –, die Mittelschicht – die Zahl der Insolvenzen steigt von Jahr zu Jahr –, und selbst viele brave Angestellte in Banken und Versicherungen kämpfen mitt­lerweile gegen den sozialen Absturz. Da hilft auch keine Allianz-Versicherung: Wer das falsche Alter hat (über 40 Jahre) oder am falschen Ort lebt (zum Beispiel im Osten), kann schnell seine bürgerlichen Sicherheiten verlieren. Ganz zu schweigen von den Perspektiven vieler Mi­granten.

Wer weiß, ob man in ein paar Jahren oder im nächsten Monat noch dazu gehört. Ebenso vergänglich sind politische Programme und Koa­litionen. Der Zerfall der bürgerlichen Mitte macht vieles möglich. In Berlin etwa sank die CDU in manchen Bezirken zu einer Splitter­partei herab, während die Grünen umgekehrt wie eine Volkspartei erscheinen. Vielleicht gibt es bald eine schwarz-grüne Minder­heitsregierung, toleriert von den Grauen Panthern?

An den Rändern aber, dort, wo die Versprechen der bürgerlichen Mitte nichts mehr gelten, breiten sich andere aus. Die wachsende Unterschicht, die sich für die etablierten Parteien nicht mehr interessiert, macht sich auf viele Weisen bemerkbar: in der sinkenden Wahlbeteiligung, an den Hauptschulen, in »national befreiten Zonen«. Dort hat der White Trash seine politische Heimat gefunden, dort ist die NPD auf dem besten Weg, zur neuen Volkspartei zu wer­den.