Gegenwind für Erdogan

Die türkische Regierung kann sich noch nicht auf einen offenen Kampf mit den Garanten des laizistischen Staates einlassen. Sie setzt auf kleine Schritte zur Islamisierung der Gesellschaft. von ömer erzeren, istanbul

Nacheinander fuhren die Spitzen des türkischen Militärs schwere Geschütze auf. In Ansprachen vor mehreren Militärakademien griffen sie Anfang Oktober die politische Entwicklung auf und nahmen, wenn auch indirekt, die Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan unter Beschuss. Die Reformen des Republikgründers Kemal Atatürk würden »systematisch ausgehöhlt«, sagte der Kommandant der Hee­resstreitkräfte Ilker Basbug. Doch »die türkischen Streitkräfte werden stets für den Schutz des laizistischen Staates Partei ergreifen«. Auch der Chef der Luftwaffe Faruk Cömert sprach davon, dass »islamische Reaktion und Terrorismus das Land in die Katastrophe« führten. Der Gene­ral­stabschef Yasar Büyükanit sprach ebenfalls von der Gefahr »islamischer Reaktion«.

Die Militärführung hatte alles dafür getan, dass die Erklärungen in den Medien die gebührende Be­achtung erlangten. Die Rede des Generalstabschefs wurde von elf Fernsehanstalten live übertragen. Am nächsten Tag räumten viele Tageszeitungen der Rede mehr Platz ein als dem Treffen des Ministerpräsidenten mit dem US-Präsidenten George W. Bush in Washington, das am gleichen Tag stattfand.

Der Ton ist schärfer geworden. Jedem war klar, an welche Adresse die Drohgebärden der Militärführung gerichtet sind: Ministerpräsident Erdogan, der seit vier Jahren im Amt ist. Erdogan tut dagegen so, als sei nichts geschehen. Er habe mit dem Generalstabschef geredet. Man dürfe keine Konflikte herbeireden, denn dies schade der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Generalstabschef sei ein sensibler Mensch. Als »Unfug« bezeichnete er Äußerungen, die Türkei werde ein zweiter Iran werden, und erklärte: »Militärputsche gehö­ren der Vergangenheit an.«

Der Konflikt um die Rolle der Religion in der Gesellschaft und den Charakter des staatlichen Laizismus schwelt seit die Regierung im Amt ist. Erdogan begann seine politische Karriere als Islamist. In den neun­ziger Jahren sprach er noch davon, dass wahre Muslime sich nicht zum Laizismus bekennen dürften. Sein Satz »Demokratie ist kein Ziel, sondern nur ein Mittel«, aus den Zeiten, als er als islamistischer Eiferer auf Wählerfang ging, ist bis heute nicht vergessen.

Erst Ende der neunziger Jahre vollzog Erdogan einen politischen Bruch. Die von ihm gegründete Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die im Jahr 2002 die Wahlen ge­wann, sei nicht »islamistisch« und auch keine »muslimische Partei«, sondern eine »konser­vativ-demokratische Partei«. Ausdrücklich bekannte man sich zum Laizismus, der seit Atatürk einen Eckpfeiler der Verfassung bil­det.

Doch immer wieder brachen in den vergangenen vier Jahren Konflikte darüber auf, wie der Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, interpretiert werden sollte. Eine radikale Revision des Laizismus hat die Regierung weder auf ihre Fahnen geschrieben noch einen ernsthaften Versuch in diese Richtung unternommen. Es waren vor allem die kleinen Schritte, die die Regierungspartei in Misskredit brachten und ihr den Vorwurf eintrugen, eine »heimliche Agenda zur Islamisierung der Gesellschaft« zu verfolgen.

Als das neue Zivilgesetzbuch, von Juristen ganz nach europäischen Normen vorbereitet, das Parlament passierte, versuchte Erdogans Partei etwa, im letzten Augenblick einen Pa­ragrafen einzuschmuggeln, der Ehebruch unter Strafe stellt. Starke Proteste von Frauenverbänden und heftige Kritik in den Medien brachten den Paragrafen zu Fall. In Büchern, die vom Bildungsministerium empfohlen wurden, fanden sich ganze Passagen religiöser Indoktrination. Als die Fälle publik wurden, versuchte der Bildungsminister zurückzurudern.

Erdogan selbst griff Richter des Obersten Ver­waltungsgerichts an, die ein Urteil gegen das Tragen des Kopftuchs gefällt hatten. Als ein isla­mistisch-faschistischer Attentäter ein Blutbad unter denselben Richtern anrichtete, versuchte Erdogan dann, die Wogen zu glätten. Die allzu harten Strafrechtsparagrafen, die einst im Kampf der säkularen Republik gegen Islamisten eingeführt worden waren, wurden entschärft. Drei Jahre Gefängnis stand auf das Betreiben illegaler Korankurse. Mit der Strafrechtsreform wurden die Strafen gesenkt und auf Bewährung ausgesetzt. Unter keiner anderen Regierung sind die Steuern auf Spirituosen so stark erhöht worden wie unter der Regierung Erdogan. Mit solchen Handlungen der Regierung und dem Besetzen öffentlicher Ämter mit gläubigen Parteifreunden hat sich Erdogan die Sympathien in den säkularen Mittelschichten vollends verscherzt. Diejenigen, die Erdogan als Wolf im Schafspelz betrachteten, sahen sich bestätigt.

Doch auch der gläubigen Anhängerschaft der eigenen Partei konnte er es nicht recht machen. Ein wichtiges Wahlversprechen Erdogans war es, dass Studentinnen mit Kopftuch Zugang zur Universität erhalten. Doch für die Universitäten ist der von der Regierung unabhängige Hochschulrat zuständig, nach dessen Verständnis von Laizismus gehören Kopftücher aus der Universität verbannt. Erdogan hoffte, dass vielleicht mittels des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das Kopftuchverbot gekippt werden könnte.

Doch vor zwei Jahren zerschlug sich die Hoffnung. Der Gerichtshof befand, dass es keine Menschenrechtsverletzung darstellt, wenn Universitäten Bekleidungsvorschriften erlassen. Durch zahl­reiche Verwaltungsgerichtsurteile erlitt die Regierung im­mer wieder Schlappen. Letztlich wählte sie den Weg des Arrangements, um keine heftigeren Konflikte im Spannungsfeld zwischen Säkularismus und Islam zu erzeugen. Denn einem schwe­ren Konflikt mit den Institutionen, die einem kemalistischen Laizismus anhängen – Staatspräsident, Militär, Justiz, Hochschulen –, können Regierung und Regierungs­partei nicht standhalten. Sie würden von innen zer­brechen. Das Kräfteverhältnis des Status quo scheint starr festgeschrieben und unabänderlich.

Doch im April kommenden Jahres wird eine zen­trale Stütze des Systems ausgewechselt werden. Dann wählt das türkische Parlament einen neuen Staatspräsidenten. Die Regierungspartei verfügt fast über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament; dank eines Wahlsystems, das eine Zehn-Prozent-Hürde für Parteien vorsieht, kam Erdogans Partei mit rund einem Drittel der Wählerstimmen auf zwei Drittel der Parlamentssitze. Erdogan hat bislang nicht ausgeschlossen, dass er selbst für das Amt kandidieren werde. Wenn kein Kompromisskandidat gefunden wird und Erdogan selbst oder ein Gefolgsmann mit islamistischer Vergangenheit Staatspräsident wird, gerät der Status quo aus den Fugen.

Der Staatspräsident spielt eine wichtige Rolle bei der Besetzung der Spitzenpositionen innerhalb der Justiz und des Hochschulrats. Das ist auch der Grund dafür, dass in den Medien die Debatte um Laizismus und islamistische Tendenzen innerhalb der Regierung eine so große Rolle spielt. Dabei berührt die Debatte kaum den sozialen und politischen Alltag der Mehrheit der Bürger. Eine jüngst veröffentlichte empirische Studie des angesehenen Forschungszentrums Tesev belegt, dass in den vergangenen Jahren das Tragen des Kopftuchs landesweit erheblich abgenommen hat. So geht es weniger um die Inhalte im Verhältnis von Säkularismus und Religion als vielmehr um die Machtposition, die Erdogan und seine Partei innehaben werden.