Daniel macht’s noch einmal

16 Jahre nach seiner Abwahl hat der frühere Guerillakommandant Daniel Ortega gute Aussichten, erneut zum Präsidenten Nicaraguas gewählt zu werden – an der Seite eines ehemaligen Contra-Führers, den er zu seinem Stellvertreter ernennen will. von wolf-dieter vogel

Viva Sandino!« dröhnt es aus den Boxen, der Schrei geht durch Mark und Bein. Seit Stunden schon stehen unzählige Männer und Frauen auf der fußballfeldgroßen Fläche, die heute Papst-Johannes-Paul-II.-Platz heißt. Fliegende Händler bieten Bilder vom nationalen Unabhängigkeitskämpfer Augusto Cesar Sandino, knallig rosarote Plakate versprechen: »Das vereinte Nicaragua wird siegen!« Die Sonne drückt, und dunkle Wolken deuten an, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ein tropischer Regen alles unter Wasser setzt.

Endlich kommt der Mann, auf den alle gewartet haben. Auf einem weißen Pferd, die blau-weiße Staatsflagge um die Schulter gehängt, begrüßt er seine Anhänger. »Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter Nicaraguas … « Er legt eine kurze Pause ein, ein kurzer Gitarrenakkord ertönt. Dann geht es weiter: »Wir sind hier, um des 27. Jahrestags des Sieges der Revolution zu gedenken.« Die getragenen Worte Daniel Ortegas erinnern an die Predigt eines Pfarrers. »Wie doch die Zeit vergeht, 27 Jahre«, sinniert der schnauzbärtige Mann. 61 Jahre alt ist der ehemalige Guerillero und spätere Staats­präsident inzwischen. Er schaut zum Himmel. Wenn der Wind aus dem Norden komme, könne man normalerweise sicher sein, dass es regne. »Aber es scheint, als ob unser Herrgott beschlossen hat, die Wolken nicht zu öffnen, damit wir an diesem wundervollen Ort dieses fröhliche Fest der Revolution feiern können.«

Provisorisch zusammengezimmerte Hütten und übrig gebliebene Hausfassaden verweisen darauf, dass sich dieser »wundervolle Ort« im alten Zentrum von Managua noch immer nicht vom Erdbeben von 1972 erholt hat. Zwischen vereinzelten modernen Gebäuden, die das Außenministerium oder das Parlament beheimaten, liegen große Brachen, in denen sich Plastikverpackungen, Steine und Unkraut sammeln.

Ganz in der Nähe des Papst-Johannes-Paul-II.-Platzes erinnert eine große Skulptur an andere Zeiten. »Nur die Bauern und Arbeiter gehen bis zum letzten«, heißt es auf einer Tafel am Sockel der zehn Meter hohen Metallfigur, die ein Gewehr in die Höhe streckt. Einige Straßenkinder haben sich unter Plastikplanen in der Nähe des alten Nationalpalastes niedergelassen, jenes Gebäudes, dessen Besetzung im Jahr 1979 die Revolution einläutete.

Doch es ist nicht die Vergangenheit, die den ehemaligen Kommandanten der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) an diesem 19. Juli ins Regierungsviertel der Hauptstadt treibt. Am 5. November finden in Nicaragua Wahlen statt, und Ortega will wieder Präsident werden. Vor 16 Jahren wurde er und mit ihm der Frente, wie hier alle den FSLN nennen, von einem konservativ-liberalen Oppositionsbündnis von der Macht verdrängt. Seither hat Ortega dreimal versucht, wieder an die Regierung zu gelangen. Immer ohne Erfolg. Doch in diesem Jahr versprechen ihm Umfragen gute Aussichten. Wenige Tage vor der Wahl liegt er deutlich vor seinem Konkurrenten, dem Bankier und konservativen Politiker Eduardo Monte­alegre von der Nationalliberalen Allianz.

Auch Roberto Ponchón López hofft auf den Sieg des Frente. »Das ganze Volk weiß, dass Kommandant Daniel Ortega der Kandidat der Armen ist«, sagt er und schiebt sein Fahrrad langsam vor sich her. Die langen Haare, die rosafarbene Baseballkappe und das Hemd, das Che Guevara, Augusto César Sandino und der Guerillaheld Carlos Fonseca zieren, weisen Ponchón als einen Mann der ersten Stunde aus.

In Chinandega, im Westen des Landes, kämpfte er gegen die Diktatur Anastasio Somozas. Er war dabei, als die Sandinisten im Juli 1979 den Tyrannen stürzten. In den achtziger Jahren erlebte er, wie die Revolution das Land veränderte. Eine demokratische Verfassung wurde verabschiedet, Schulen und Krankenhäuser wurden gebaut, der Analphabetismus wurde bekämpft. »Doch dann mussten wir die Revolution gegen die Contras verteidigen«, erzählt Ponchón. Die von der US-amerikanischen Regierung finanzierte Söldnertruppe sollte das Land destabilisieren und letztlich die linke Regierung stürzen. 30 000 Menschen fielen diesem Krieg zum Opfer, eine Wirtschaftsblockade hemmte die Entwicklung, die Arbeitslosigkeit stieg. Im April 1990 wurde der Frente schließlich abgewählt.

»Die Leute waren müde von diesem Krieg«, meint die Sozialarbeiterin Vicenta Membreno. »Sie wollten, dass ihre Söhne und Männer nach Hause zurückkehren.« Dennoch kann die 48jährige eine gewisse Wehmut nicht verbergen, wenn sie über die Revolution spricht. »Die Bedingungen waren nicht einfach. Aber wir haben mit viel Hoffnung für ein alternatives Gesellschaftsmodell gekämpft.« Dann verweist die korpulente Frau auf die Schule im Viertel Las Torres, an deren Bau sie in den achtziger Jahren mitgewirkt hat, nicht weit weg vom Zentrum, am Managua-See, dort, wo die Armensiedlungen immer größer werden. Der Frente habe viel für Kinder gemacht, das sei heute anders. Viele Schulen und Gesundheitszentren würden geschlossen.

»Neoliberalismus«, »wilder Kapitalismus«, Ortega lässt keines dieser kämpferischen Schlagworte aus. Er spricht von den vier Millionen Armen, von den verlorenen Söhnen, die auf Arbeitssuche in den reichen Norden ausgewandert sind. Die Sonne brennt weiter, die Wolken nahen. Dann wieder dieser Schrei: »Viva Sandino!« – begleitet vom Knallen von Feuerwerkskörpern und untermalt von jenen Gitarrenklängen, die in einer geschickt getarnten Endlosschleife keine Erholung zulassen. »Die Armen können nicht mehr warten.« Das, betont Ortega, habe auch Papst Johannes Paul II. immer gesagt.

Wer Genaueres erfahren will, fragt besser Edwin Castro. Der Fraktionsvorsitzende des FSLN im nicaraguanischen Parlament lebt in einem der besseren Viertel Managuas. Er hat an seinen polierten dunkelgrauen Caravan zwei schwarz-rote Fähnchen gesteckt, das Zeichen der sandinistischen Revolution. Rosarote Plakate schmücken den Wagen. 16 Jahre liberale Politik hätten das Land in den Ruin gestürzt, meint er. »1990 waren 20 Prozent arbeitslos, inzwischen sind es 65. Trotz des Kriegs waren damals nur zwölf Prozent An­alphabeten, heute sind es dreimal so viel.« Er spricht viel über soziale Probleme, die die Nachfolger der Sandinisten zu verantworten hätten, redet von den Folgen der Privatisierung des Bildungs- und Gesundheitswesens. »Selbst die Regierung räumt ein, dass fast 800 000 Kinder ohne Schulunterricht aufwachsen.«

Die Auswirkungen der wirtschaftspolitischen Liberalisierung haben in den vergangenen Jahren wiederholt zu Protesten geführt. Studenten demonstrierten gegen Fahrpreiserhöhungen, Bürgerinitiativen gingen gegen die privatisierte Stromwirtschaft auf die Straße, Ärzte und Krankenschwestern streikten für höhere Löhne. Fünf Monate lang dauerte ihr Streik, im April ging die Regierung auf ihre Forderungen ein. Die Gewerkschafterin Wilma Castillo Vallejo ist trotzdem nicht zufrieden. »Das Wenige, was sie uns zugestanden haben, reicht kaum für das Notwendigste. Auch mit 30 Prozent mehr Gehalt können wir die Haushaltskosten kaum bezahlen.«

Noch schlechter sieht es auf dem Land aus. Zwei Drittel der 5,5 Millionen Nicaraguaner leben von der Landwirtschaft. Die meisten erwirtschaften bestenfalls das, was sie zum Leben brauchen. »Die Bauern haben während des Sandinismus verlernt, auf dem freien Markt zu konkurrieren«, meint Alvaro Fiallos, der Präsident des Kleinbauernverbandes Unag. Damals habe ein übertriebener Paternalismus gegenüber den Campesinos bestanden. »Jetzt brauchen wir dringend umfassende Hilfsmaßnahmen in der Bildung, der Gesundheitsversorgung, im Umweltschutz und der Ernährung.« Nur der Frente habe sich auf diese Forderungen eingelassen, sagt Fiallos.

Ortega ist beim »Kampf für eine gerechte Gesellschaft« angekommen. Das Volk müsse regieren, predigt er, und viele auf dem Papst-Johannes-Paul-II.-Platz jubeln. Die Gitarren-Endlosschleife läuft weiter, und der Regen lässt immer noch auf sich warten. Die Versöhnung. Nichts sei so wichtig wie die Versöhnung. Die Kirche, die Liberalen, die Unternehmer – Ortega lässt keinen der alten Feinde aus. Mit allen habe man Frieden geschlossen.

Dann grüßt er Jaime Morales Carazo, seinen Kandidaten für das Amt des stellvertretenden Präsidenten. Vielen Nicaraguanern ist der grauhaarige Politiker nicht nur von den vielen Wahlplakaten bekannt, von denen herab er Passanten und Autofahrer anlächelt. Der Unternehmer war ein Führer der Contras. Der FSLN-Abgeordnete Cas­tro hält diese Allianz für eine kluge Idee. Schließlich fürchteten viele, dass mit einem Wahlsieg des Frente der Krieg zurückkehrte. Dem könne man nun entgegnen. »Wir haben uns mit dem politischen Chef der Konterrevolutionäre verbündet. Gegen wen sollten wir noch kämpfen?« fragt er und grinst.

Auch Rosario Murillo grinst. »Für deine Familie« steht auf dem Werbeprospekt, mit dem Ortegas Ehefrau für ihren Mann wirbt. Langes offenes Haar, Sonnenbrille, blaue Hippie­ket­ten, ähnliche Armbänder, pinkfarbenes Sonnenschild, modisches T-Shirt – auf den ersten Blick lässt sich nicht erahnen, wie weit die Versöhnung gehen kann. Doch im August plauderte Murillo im sandinistischen Radio Ya über alles, was ihr am Herzen lag. »Die religiösen Werte sind unser Trost, unser Schutz. Der Glaube ist der Weg, auf dem die Menschen den Frieden finden«, erzählte sie. Kurz zuvor ließen sich Ortega und Murillo vom konservativen Kardinal Miguel Obando y Bravo trauen.

Ein beachtenswerter Schritt, kommentierte die Schriftstellerin Gioconda Belli. Schließlich hätten die beiden zuvor 27 Jahre zusammen unter Verhältnissen gelebt, die von der Heiligen Mutter Kirche als »Konkubinat« verurteilt würden. »Und jetzt erklärt Murillo sich und ihre Partei zu Verteidigern des christlichen Glaubens, der Bischöfe und Kardinäle und aller anderen, die ihr und ihrem Ehemann wieder den Weg an die Macht freiräumen.«

Nicht nur wegen der Liaison mit dem katholischen Klerus sind nicht wenige alte Sandinistinnen auf ihre ehemaligen Gefährtinnen und Gefährten schlecht zu sprechen. In der vergangenen Woche beschloss das Parlament, die »therapeutische Abtreibung« zu verbieten. Bislang durfte eine Frau abtreiben, wenn die Schwan­ger­schaft ihr Leben bedrohte. Künftig werden Frauen und beteiligte Ärzte für eine Abtreibung mit vier bis acht Jahren Haft bestraft. Das findet auch Murillo richtig. »Nein zur Abtreibung, Ja zum Leben, Ja zum religiösen Glauben«, sagte die Sandinistin im Radio Ya. Viele Abgeordnete des FSLN stimmten der Gesetzesvorlage zu, die Liberale und Konservative mit Unterstützung der Kirche eingebracht hatten.

Gioconda Belli ist nicht die einzige prominente Ehemalige, die sich vom FSLN abgewendet hat. Die ehemalige Guerilla-Kommandantin Monica Baltodano, der Priester Ernesto Cardenal, der Autor Sergio Ramirez und andere frühere Kämpferinnen und Kämpfer des FSLN kandidieren mit einer eigenen Partei, der Sandinistischen Erneuerungsbewegung MRS. Doch in den Umfragen liegen sie weit hinter ihren ehemaligen Parteifreunden.

Den Dissidenten angeschlossen hat sich auch Carlos Mejía Godoy. Er kandidiert für den Posten des Vizepräsidenten. Noch heute spielt der wohl bekannteste Musiker Nicaraguas in den Konzertsälen Managuas die alten Revolutionslieder. Im familieneigenen »Mejía-Godoy-Haus« erinnern seine Konzerte solidaritätsbewegte Touristen an alte Zeiten. Doch mit dem Frente hat er gebrochen. Ortega sei ein autoritärer Caudillo, meint der Musiker. Dann verweist er auf Herty Lewites, den inzwischen verstorbenen parteiinternen Konkurrenten Ortegas. Der frühere Bürgermeister von Managua hatte versucht, im FSLN gegen den »Chef« anzutreten, kandidierte dann aber für den MRS. »Ortega hat in der Partei keine Wahlen zugelassen«, kritisiert Godoy. »Dabei haben wir immer gegen Personenkult und Caudillismus gekämpft. Genau das verkörperte schließlich auch der Diktator Somoza.«

Die Diktatur? Die Revolution? Somoza? Rafael López war noch ein Kind, als Somoza gestürzt wurde. Der heute 37jährige lebt in Masaya, eine knappe Autostunde von Managua entfernt. In der Kleinstadt rüsteten sich die Aufständischen für ihre letzte Schlacht. Hier lieferten sich die Rebellen harte Kämpfe mit der Nationalgarde, und vor allem der indigen geprägte Stadtteil Monimbó bot ihnen Schutz. Heute erinnert nur wenig an die alten Tage. Vor den Häusern sitzen dunkelhäutige Frauen und knüpfen Hängematten, viele Anwohner züchten Hühner oder Schweine, um über die Runden zu kommen. Das Geld ist in den meisten Haushalten knapp.

»Irgendwie waren wir immer Sandinisten«, sinniert López, aber eigentlich ist er vor allem mit Krediten, Kalkulationen und Holzfugen beschäftigt. Er leitet das Schreinerkollektiv »Tonio Pflaum«, das in den achtziger Jahren mit Hilfe deutscher Unterstützer in Monimbó entstanden ist. Kinder von Eltern, die im Kampf gegen die Contras starben, sollten eine Ausbildung erhalten. Mittlerweile beschäftigt der Betrieb 28 Menschen, und López ist seit der ersten Stunde dabei. »Im Wahlkampf versprechen alle Parteien, dass sie Kleinunternehmen mit günstigen Krediten helfen«, sagt er, »aber letztlich arbeiten alle in die eigene Tasche.« Abgeordneter zu sein, sei ein einträgliches Geschäft. Ob er zur Wahl gehe? Er denkt einen Moment nach. »Mein Vater starb für ein Ideal, allein deshalb werde ich wohl sandinistisch wählen.« Dann echauffiert er sich über die »Piñata«, jene Überschreibungen, mit denen sich führende sandinistische Politiker Eigentumstitel sicherten, bevor sie die Macht abgeben mussten. Und über den »Pakt«.

Der Pakt. Auch Mejía Godoy reagiert entnervt, wenn man auf Ortegas Bündnis mit dem liberalen ehemaligen Präsidenten Arnoldo Alemán zu sprechen kommt. »Die beiden Caudillos teilen sich die Macht in Nicaragua auf«, schimpft er. Ortega und Alemán haben in den neunziger Jahren dafür gesorgt, dass sie bis heute zentrale Institutionen kontrollieren: den Obersten Gerichtshof, den Nationalen Wahlrat, den Rechnungshof. Alemán wurde zwar später wegen Korruption zu 20 Jahren Haft verurteilt, dank der Unterstützung von Ortega befindet er sich jedoch nur im Hausarrest. Der Frente-Parlamentarier Castro findet diese Koalition nicht anrüchig. Das Bündnis habe die »nationale Versöhnung« vorangebracht.

Ortega hat die Versöhnung hinter sich gelassen. Zumindest an diesem Tag. Er spricht von den Problemen der kleinen Leute, von den Stromausfällen, davon, dass der Reichtum allen zugute kommen müsse. »Es lebe der 27. Jahrestag der Revolution!« ruft er seinen Anhängern zum Abschied zu. Das Läuten von Kirchenglocken übertönt das Knallen der Feuerwerkskörper, die Gitarre in der Endlosschleife gibt keine Ruhe, aber endlich erfüllt sich der göttliche Wille. Es regnet auf dem Papst-Johannes-Paul-II.-Platz. Das Spektakel ist vorbei.