Der ganz normale Ausnahmezustand

In Neapel eskaliert die Gewalt zwischen rivalisierenden Camorra-Clans. Viele sehen in einem Einsatz des Militärs die einzige Lösung. von federica matteoni

Die italienischen Soldaten werden erst mal nur im Ausland arbeiten. Zu dem in den vergangenen Wochen heftig umstrittenen Einsatz der italienischen Armee im Kampf gegen die organisierte Kriminalität in Neapel wird es nicht kommen. Das erklärte Premierminister Romano Prodi, als in den letzten vier Wochen in den meisten Zeitungen und Polit-Talkshows die häufigste Schlagzeile lautete: »Neapel im Ausnahmezustand«. Was ist eigentlich in Neapel los?

Dass die Stadt ein Gewaltproblem hat, ist bekannt. Die Camorra, wie sich dort die organisierte Kriminalität nennt, weitet ihre Macht über die Stadt durch Drogenhandel, Schutzgelderpressung und die Kontrolle kompletter Wirtschaftssektoren aus. Allein in diesem Jahr hat der blutige Krieg zwischen rivalisierenden kriminellen Clans bereits 75 Opfer gefordert. Vor zwei Wochen eskalierte diese Gewalt bis zu ihrem vorläufigen Höhepunkt: Innerhalb von zehn Tagen wurden zwölf Menschen auf offener Stra­ße ermordet, in fast allen Fällen handelte es sich um Rachemorde, die auf den Camorra-Bandenkrieg zurückzuführen sind. Das war zu viel, selbst für das bereits als eine Art Freiraum für Kriminelle geltende Neapel.

Viele Oppositionspolitiker sowie einige Staatsanwälte, die in Süditalien gegen die organisierte Kriminalität ermitteln, haben für die Eskalation der Gewalt den von der Regierung Prodi im Sommer verabschiedeten Strafnachlass verantwortlich gemacht. Dank dieses Gesetzes sind etwa 24 000 der insgesamt ca. 60 000 Gefängnisinsassen entlassen worden. Unter den 2 000 Menschen, die in Neapel davon profitieren konnten, seien keine harmlosen Eierdiebe gewesen, behauptet etwa der Staatsanwalt Vincenzo Galgano in einem Interview mit der Tageszeitung La Repubblica: »Ein Großteil dieser Leute hat innerhalb von zwei, drei Monaten wieder seine Posten in den Reihen der organisierten Kriminalität besetzt. Das konnte nicht auf friedlichen Wegen geschehen.« Hatte also der Strafnachlass den paradoxen Effekt, die Lebensbedingungen in den überfüllten italienischen Strafanstalten zu verbessern, dafür aber die ohnehin gefährliche Situation in den Straßen Neapels zu verschärfen und einen neuen Krieg zwischen rivalisierenden Clans in Gang zu setzen?

Nicht nur an diesem Punkt geriet Prodi in den vergangenen Wochen unter Druck. Es ging auch um die grundsätzliche Haltung der parlamentarischen Linken in Italien, die die Veranke­rung der Mafia, der Camorra und der Krimi­na­lität im süditalienischen »Mezzogiorno« immer in erster Line zu einem sozialen Problem erklärt hat und im Kampf gegen die »Kultur der Illegalität« in Städten wie Neapel oder Palermo ein Handeln der so genannten Zivilgesellschaft fordert.

Doch das Erkennen des Problems bedeutet noch nicht seine Lösung. Sowohl die Region Campanien als auch die Stadt Neapel werden seit fünf Jahren von Mitte-Links regiert. Und die Bilanz ist deprimierend. So beschrieb der neapo­litanische Schriftsteller Roberto Saviano seine Stadt in einer Reportage, etwa zwei Monate vor der neuen Eskalation der Gewalt: »Gewalt in den Straßen, Jungen, die davon träumen, Killer zu werden, Bosse, die sich zu Unternehmern aufschwingen. Kokain an jeder Ecke. Und überall Müll.«

Der 28jährige Saviano, der regelmäßig für das Nachrichtenmagazin L’Espresso aus Neapel berichtet, veröffentlichte im Sommer seinen ersten Roman »Gomorra – Reise durch das wirtschaftliche Imperium und den Herrschaftsraum der Camorra«. Weil er in seinem Buch das, was in Neapel alle wissen, benennt, und zwar die Vor- und Nachnamen bekannter Camorra-Bosse, erhielt er Mord­drohungen. Er wurde unter Polizeischutz gestellt und musste die Stadt verlassen.

Am Wochenende stellte Prodi seinen »Plan für ein sicheres Neapel« vor. Alles, was er vorsieht, ist eine Verstärkung der Polizei.