Die inneren Werte werden gewinnen

Trix und Flix heißen die Maskottchen für die Fußballeuropameisterschaft 2008. Nach offizieller Lesart repräsentieren sie einerseits die kreative Seite des Fußballsports, andererseits die Sekundärtugenden Disziplin und Kontrolle. von christian helms

Die Erzählung von »Pinocchio«, dem kleinen Holzjungen aus der Werkstatt des Tischlermeisters Gepetto, ist zweifelsohne eine der berühmtesten der Weltliteratur. Auch deshalb entschieden sich die Veranstalter der Fußballeuropameisterschaft 1980 in Italien, ihr eine weitere Ehre zu erweisen, und ernannten die in der ganzen Welt beliebte Figur Carlo Collodis damals zum Maskottchen des Turniers. So einfach kann es funktionieren.

Ob man im Land des Weltmeisters heutzutage erneut so handeln würde, ist fraglich. Eine Gestalt, deren Nase je nach Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen unterschiedliche Dimensionen annimmt, wäre nach den jüngsten Mauscheleien im italienischen Fußball wohl kaum vermittelbar. Doch diese Frage stellt sich ja auch gar nicht.

Exakt 619 Tage vor dem Beginn der Europameisterschaft 2008 wurden in Wien die offiziellen Maskottchen in Österreich und in der Schweiz vorgestellt. Rund 4 000 Arbeitsstunden investierte die Firma Warner Bros. nach eigenen Angaben und präsentierte schließlich Pinocchios Erben: ein maskiertes Zwillingspaar in rot-weißer Fußballmontur, das zwar zunächst noch auf seine Namenstaufe wartete, dafür aber mit einer umfangreichen Interpretationshilfe ausgeliefert wurde.

Dass die kickenden Knaben die Nationalfarben der beiden Gastgeberländer aufgreifen, durchschaut der Betrachter wahrscheinlich noch recht schnell. Ebenso deutlich formen die Zahlen »20« und »08« eine Jahreszahl. Und auch die Silhouette der Alpen, die schon ins Turnierlogo eingearbeitet wurde und nun die Masken der beiden Kreaturen sichtlich beeinflusste, bedarf keiner längeren Erklärung. Dass die zunächst namenlosen Brüder einem »magischen Tal« entstiegen seien, erfährt der Fan hingegen erst aus der schwülstigen Erklärung der Uefa.

Dort heißt es zudem: »Ihre fantastischen Fähigkeiten gehen Hand in Hand mit ihren vorbildlichen Lebenseinstellungen. Eine mächtige Stimme sagt ihnen, dass sie es im Fußball sehr weit bringen werden, dass sie diesen Zauber versprühen können, wenn sie nur hart genug trainieren. Sie sind der Beweis dafür, dass es im Fußball keinen Platz für Feindseligkeit und Egoismus gibt – die Zwillinge zeigen, dass man nur zusammen erfolgreich sein kann. Um zu demonstrieren, dass es nicht auf das Aussehen ankommt, entschieden sie sich, Masken zu tragen. Die inneren Werte sind es, die wichtig sind.« Angeblich hat man sich in den 4 000 Arbeitsstunden ausgiebig Gedanken gemacht. Zu bemerken ist davon nichts.

Die Zwillinge aus dem magischen Tal stünden überdies stellvertretend für die unterschiedlichen Auffassungen des Spiels: Während die »20« mit dem lässig über der Hose getragenen Trikot und den hinuntergerollten Stutzen das kreative Element des Fußballs verkörpere, bringe die streng den Vorschriften entsprechend gekleidete »08« die Grundtugenden Disziplin und Kontrolle ein, so die offizielle Lesart. In anderen Worten: Der eine repräsentiert den Fußball, nach dem sich die Zuschauer sehnen; der andere jenen, den sie bei den jüngsten Turnieren zu sehen bekamen.

»Zagi und Zigi«, »Flitz und Bitz« oder »Trix und Flix« – zwischen diesen drei Namenskombinationen durften sich die Österreicher und Schweizer entscheiden. »Wir schlugen Namen vor, die kurz, einfach, in verschiedenen Sprachen leicht aussprechbar sind und die lebenslustige, fröhliche Art der Maskottchen widerspiegeln«, meint Christian Schmölzer, der österreichische Turnierdirektor. »Es ist wie bei der Geburt eines Kindes, nicht jedem gefällt der Name«, ergänzt der für die Schweiz zuständige Turnierdirektor Christian Mutschler. Aber die Tatsache, dass 67 406 Fußballfans in Österreich und der Schweiz ein Votum abgegeben haben, zeige, dass die vorgeschlagenen Namen sehr populär gewesen seien. »Trix und Flix« machten schließlich das Rennen, mit 36,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, knapp vor »Flitz und Bitz« mit 33,7 Prozent und »Zagi und Zigi« mit 30 Prozent.

Darüber befinden, ob das Glücksbringer-Duo ein Erfolg wird, dürfte hingegen vor allem das Ausland. Und das wünscht sich oft eher ein griffiges Klischee als mitgelieferte Sekundärliteratur. Zuletzt scheiterte daran »Goleo VI«, der deutsche Problemlöwe.

»So positionieren wir uns als Pseudo-Disney-Dilettanten«, schimpfte beispielsweise der Schweizer Designer Peter Vetter. Es hätten ja nicht unbedingt die »Sachertorte Ötzi und der Käselaib Bobo« sein müs­sen, die die Welt in den Alpenländern begrüßen. Auch nicht »der Kaffeehausbetreiber und die Bankierstochter«. Doch ob sich die Legende vom magischen Tal als Wiege der Fußballkunst wirklich besser verkaufen lässt, bleibt abzuwarten.

An welche Vorfahren der alpinen Zwillinge mit den roten Masken erinnert man sich heute überhaupt noch? Auf das allererste EM-Maskottchen, Pinocchio, den hüftsteifen Holzkopf mit dem grün-weiß-roten Zinken im Gesicht, folgte Peno, der gallische Hahn, der die Franzosen 1984 äußerst zurückhaltend auf dem Weg zu ihrem ersten internationalen Triumph begleitete.

Unvergessen dürfte zumindest hierzulande der Hase Bernie sein, der weitere vier Jahre später durch Deutschland tingelte; er trug seine Schweißbänder übrigens nicht etwa deshalb, weil er dadurch die inneren Werte in den Vordergrund rücken wollte – sondern ganz einfach, weil er schwitzte. In frischen Trainingsklamotten gelang es ihm überraschend, auch beim Turnier in Schweden wieder mit von der Partie zu sein. Zumindest sah ihm das namenlose Maskottchen, das die Skandinavier 1992 verwendeten, auffallend ähnlich.

Hilflos musste vier Jahre später der breitschultrige Löwe Goaliath mit ansehen, wie Andreas Köpke im alten Wembley-Stadion den entscheidenden Elfmeter von Gareth Southgate parierte. Im Jahr 2000 einigten sich die gemeinsamen Gastgeber Niederlande und Belgien auf ein Kompromiss-Maskottchen: Benelucky, einen fünffarbigen, bedrohlich kopflastigen Löwen mit Teufelshörnern.

Kinas (2004), dem kleinen Jungen aus einem noch kleineren portugiesischen Dorf, eilten schließlich ähnliche Legenden voraus wie dieser Tage den Gesellen aus der Schweiz und Österreich. In Animationsfilmen demonstrierte er seine große Ballfertigkeit, doch gerade, als er sich anschickte, im eigenen Land zum Liebling der Massen zu werden, kam ihm der Ehrengrieche Otto Rehhagel in die Quere.

»Modern ist, wer gewinnt«, hieß es am Ende dank des goldenen Treffers von Angelos Charisteas.