Ein Mythos regiert weiter

Luis Inácio Lula da Silva bleibt Brasiliens Präsident. Nach seinem Wahlsieg kündigte er die Fortführung seines wirtschaftlichen Sparkurses an. von astrid schäfers, são paulo

Die zahlreichen Korruptionsvorwürfe innerhalb der Arbeiterpartei (PT) minderten die Popularität von Präsident Luis Inácio Lula da Silva kaum. So war bei der Stichwahl am 29. Oktober bereits abzusehen, dass Geraldo Alckmin, Präsidentschaftskandidat der Brasilianischen Sozialdemokratischen Partei (PSDB), keine Chance gegen Lula haben würde. Mit über 60 Prozent der Stimmen entschied sich die Mehrheit der brasilisanischen Wähler klar für Lula.

In einem Hotel auf der Avenida Paulista, der Wall Street von São Paulo, lobte der frisch gewählte Präsident mal wieder sich selbst: »Das ist ein Wahlsieg, mit dem ich mich als Politiker selbst verwirklicht habe. Das ist ein Wahlsieg der Leute von unten gegen die da oben.«

Viele Anhänger hat Lula im Nordosten Brasiliens, insbesondere unter den ärmeren Schichten. Für viele arme Familien habe das Sozialprogramm »Bolsa Familia« bei der Entscheidung zwischen Lula und Alckmin »wie ein vorab gezahltes dreizehntes Monatsgehalt« gewirkt, schreibt die Tageszeitung Folha de São Paulo. Doch Lula wurde keineswegs nur von den Armen gewählt.

Florestan Fernandes Junior, Direktor des öffentlichen Fernsehsenders TV Assambleía, erklärt hierzu gegenüber der Jungle World: »Dass Lula mit den Stimmen der Armen gewählt wurde, muss entmystifiziert werden. Die Zahlen zeigen, dass er sehr viele Stimmen von der Mittel- und Oberklasse bekommen hat. Im Bundesstaat São Paulo, dem konservativsten und reichsten Bundesstaat Brasiliens, bekam er 47,5 Prozent der Stimmen. Dasselbe gilt für den mächtigen und reichen Staat Minas Gerais, wo 67 Prozent der Wähler für Lula gestimmt haben, sowie für den Bundesstaat Rio de Janeiro, wo er 60 Prozent der Stimmen bekam.«

Vor der Stichwahl konnte Lula seine Bündnisse konsolidieren. Da es sehr wahrscheinlich schien, dass er gewinnen würde, schlossen elf frisch gewählte Gouverneure der konservativen Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) und des PSDB Bündnisse mit ihm ab, unter anderem die Gouverneure der bevölkerungsreichen Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro. So sieht die Lage für Lula heute wesentlich günstiger aus als nach dem Wahlsieg 2002. Standen damals nur drei Gouverneure des PT hinter ihm, so kann er heute mit der Unterstützung von 16 der 27 Bundesstaaten rechnen.

Die vom Wahlsieg ausgelöste Euphorie ließ den Skandal vergessen, der Lula im ersten Wahlgang viele Stimmen gekostet hatte. Zwei Wochen vor den Wahlen waren Unterhändler von Lulas Partei in flagranti ertappt worden, als sie dabei waren, ein Dossier zu kaufen, das José Serra, den sozialdemokratischen Kandidaten für das Amt des Gouverneurs in São Paulo, belasten sollte. Das Dossier besteht aus einem Video sowie aus Fotos und Papieren, die zeigen, wie Mitglieder des PSDB vergünstigt Lizenzen für Krankenwagen an ein Unternehmen vergaben. Der Gegenkandidat des PT, Aloizio Mercadante, hoffte, mit der Veröffentlichung des Materials seine Chancen gegen José Serra erhöhen zu können. Lula beteuerte bis zuletzt, nichts über die Affäre gewusst zu haben.

Die überwiegend konservative Presse nutzte das »Dossiergate« für eine Hetzkampagne gegen Lula. Am Tag vor dem ersten Wahlgang waren auf den Titelseiten zahlreicher Zeitungen mehrere Stapel Bargeld zu sehen (womit das Dossier gekauft werden sollte). Insbesondere die tendenziöse Berichterstattung des größten brasilianischen Medienkonzerns, des Fernsehsenders »Rede Globo«, machte keinen Hehl aus seiner Unterstützung für Alckmin.

Nun hat Lula gewonnen, und die Feinde werden zu Freunden. So hat sich »Rede Globo« seit Lulas Wiederwahl bereits mehrfach anerkennend über ihn geäußert. José Serra hat ein Bündnis mit Lula abgeschlossen. Zum Dialog bereit zeigte sich sogar der Anführer der Minderheit in der Abgeordnetenkammer, José Carlos Aleluia, von ultraliberalen Partei PFL, die sehr geschwächt aus den Wahlen hervorging.

Sowohl bei der Besetzung der Ministerien als auch bei der Bildung von Mehrheiten im Kongress ist Lula weiterhin auf den PMDB angewiesen. Er verfügt über die meisten Sitze in der Abgeordnetenkammer. Da Lula bereits angekündigt hat, bei seinem wirtschaftlichen Sparkurs bleiben zu wollen, könnte seine Politik des Bündnisses mit den Mitgliedern der konservativen Parteien sogar funktionieren.

Einen Tag nach seiner Wiederwahl rügte er seinen Minister für internationale Beziehungen, Tarso Genro, der dem linken Flügel des PT angehört. Tarso Genro hatte vor der Presse »das Ende der Ära Palocci« angekündigt und sich damit auf die Sparpolitik des ehemaligen Wirtschaftsministers Antonio Palocci bezogen. Tags darauf waren die Kurse an der brasilianischen Börse Bovespa in São Paulo gesunken und der Dollar war gestiegen. Inzwischen hat sich die Börse wieder beruhigt, die Börsianer sind vor allem darüber erleichtert, dass der Direktor der Zentralbank, Henrique Mireilles, auf seinem Posten bleibt. Dies bedeutet nämlich, dass die Zinsen hoch bleiben werden.

Tarso Genro, der derzeitige Wirtschaftsminister Guido Mantega und andere Regierungsmitglieder des linken Flügels des PT müssen sich den Prioritäten des Präsidenten beugen: Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, Inflationskontrolle und das Erzielen eines Haushaltsüberschusses. Und natürlich Wirtschaftswachstum, denn das schafft ja Arbeitsplätze. Doch selbst wenn Arbeitsplätze entstehen sollten, stellt sich die Frage, welche Qualität sie haben. Einer Untersuchung des Wirtschaftsinstituts Ipea zufolge hat über die Hälfte der Empfänger des Programms »Bolsa Familia« einen Arbeitsplatz, ein Drittel verfügt sogar über einen formellen Arbeitsvertrag. Sie verdienen aber so wenig, dass die knapp 100 Real des Hilfsprogramms (ca. 38 Euro) ihre Situation erheblich verbessern.

Beschränkt sich also der Slogan des Wahlsieges »der Leute von unten gegen die da oben« nur darauf, dass »die von unten« Reis und Bohnen zu stabilen niedrigen Preisen kaufen können, und auf die 38 Euro, die sie monatlich erhalten?

Die Landlosenbewegung MST bereitet sich auf intensivere Kämpfe im kommenden Jahr vor. Im April sollen die Landbesetzungen ausgeweitet werden, um die Aufmerksamkeit auf die Agrarreform zu lenken. Gemeinsam mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in mehreren Städten plant das MST einen Generalstreik gegen Lulas Wirtschaftspolitik. Der Streik soll die Reformen und eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes verhindern sowie die Regierung dazu zwingen, ihre Wirtschaftspolitik zugunsten sozialer Belange zu verändern.