Zeig dich, Schurke!

Jacques Derrida sucht den Schurkenstaat und findet die staatliche Souveränität. von cord riechelmann

Zwei Anekdoten können helfen zu verstehen, in welchen Kraftfeldern Jacques Derridas Buch »Schurken« – Untertitel: »Zwei Essays über die Vernunft« – spielt. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms in den USA hatte man Derrida irgendwo an der Ostküste in einer Limousine zu einem Empfang in einer Galerie gefahren. Kaum dass er ausgestiegen war, hallte ihm aus dem versammelten jüdisch-protestantischen juste milieu die vermeintliche Ehrenbezeichnung the king of deconstruction entgegen. Derrida soll daraufhin, so wird es kolportiert, seinen Begleiter gefragt haben, ob man vielleicht auf der falschen Party sei. Der König verhalte sich doch zur Dekonstruk­tion wie das Feuer zum Wasser und eben nicht wie der Champagner zum Glaspalast.

Die andere Anekdote ereignete sich an einer west­deutschen Universität. Der einladende Professor, nennen wir ihn K., hatte für den Gast ein Auto gemietet, um ihn übers Land zu fahren. Bei der Gelegenheit fragte K. Derrida: »Warum haben Sie nie ein schlechtes Wort über Martin Heidegger verloren?« Derridas Antwort lautete: »Die Amerikaner hatten zum Ende des Zweiten Weltkriegs Algerien schon mehrere Monate von den Deutschen befreit und waren in der Zeit noch immer nicht auf die Idee gekommen, das Lern- und Lehrverbot für Juden aufzuheben.«

Die Vichy-Regierung hatte 1942 für algerische Juden wie Derrida den Schulbesuch untersagt. Der »kleine Jacques« – Derrida war 12 Jahre alt – trieb sich daraufhin häufig in Parks herum und besuchte den von entlassenen jüdischen Lehrern organisierten »Privatunterricht« nur selten. Unter arabischen Jugendlichen, Taschen- und Tagedieben, habe er, so erzählte Derrida K., lehrreiche Jahre verbracht.

In diesen beiden Anekdoten sind die Hauptakteure von Derridas »Schurken«-Aufsätzen bereits angesprochen. Zum einen ist es die US-Demokratie, die kraft ihrer Hegemonie, also ihres »Rechts des Stärkeren«, Schurkenstaaten ausmacht, definiert und bekämpft. Zum anderen sind es die Schurken selbst.

»Das Recht des Stärkeren (Gibt es Schurkenstaaten?)« heißt der erste Aufsatz. Der Titel bezieht sich auf La Fontaines Fabel »Der Wolf und das Lamm«, in der es heißt: »Des Stärkeren Recht ist stets das beste Recht gewesen.« Die Fabel steht für Derrida für die »unermessliche Tradition« der Verbindung von Gewalt und Recht im abendländischen Denken von Platon bis Carl Schmitt. In ihr fehlt allerdings der ­Schurke. Der Wolf, der die souveräne Macht darstellt, die das Recht setzt, ist nämlich prinzipiell kein Schurke. Die souveräne Macht behält gegenüber dem Lamm die Oberhand und das Recht. Dadurch wird aber auch das Lamm nicht zum Schurken – und Derrida fügt hinzu: Und der Schurke nicht zum Lamm.

Wo also sind sie, die Schurken? Im französischen Sinn des Wortes gab es sie schlicht noch nicht. Der französische Ausdruck für Schurke – voyou – taucht erstmals im Jahr 1830 auf. In jenem Jahr, in dem Frankreich unter Charles X. Algerien erobert. Der­rida schreibt, voyou sei ein volkstümlicher Ausdruck, ein Schurke der Sprache: »Der Schurke ist beschäftigungslos, manchmal arbeitslos, und zugleich aktiv damit beschäf­tigt, die Straße zu okkupieren, entweder nichts tuend ›das Pflaster zu treten‹ oder etwas zu tun, was man normalerweise, nach den Normen, nach Gesetz und Polizei nicht tun darf auf den Straßen und allen anderen Wegen.«

Der voyou ist städtischer Herkunft. Das Schurkenmilieu ist die Stadt, die Polis. »Und wenn man von Schurken spricht, ist die Polizei nicht weit.« Von Schurken sprechen heißt nach der Ordnungsmacht rufen. Die Nähe von Schurken und Polizei findet ihre Fortsetzung im Verhältnis von Schurkenherrschaft und legaler Macht. Das Schurken­regime ist eine Macht außerhalb des Gesetzes. Es ist keine Anarchie und kein Chaos, sondern strukturierte Unordnung, organisierte Unordnung – im Sinne einer Geheimgesellschaft, eines religiösen Ordens, einer Bru­der­schaft oder einer Sekte.

Die Schurkenherrschaft fordert den souverä­nen Staat heraus, sie stellt sich mit ihm auf Augenhöhe und unterläuft so das Gewaltmonopol des legitimen Staats, bzw. das Schurkenregime tritt in Konkurrenz zum Staat. Es konstituiert eine Gegenmacht samt Gegenstaatsbürgerschaft. Illegitime Schurken und legitime Herrschaft bleiben damit im selben Bezugs- und Begriffsrahmen. Die Herausforderung des Staats besteht in der Konstitution eines Gegenkonzeptes, das zur überschreitenden, kriminellen Souveränität werden kann.

Derrida verdeutlicht diesen Zusammenhang kurz und bündig an der Geschichte des Begriffes »Schurkenstaat« (rogue state) in den USA. Erst­mals sei der Begriff von Robert S. Litwak verwendet worden, der unter Bill Clinton Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat war: »A rogue state is whoever the United States says it is.« Die unge­teilte Souveränität der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion letzten verbliebenen Weltmacht bestimmt, wer ein Schurkenstaat ist.

Als erster Schurkenstaat wurde von den USA im historischen Rückblick Panama unter Manuel Noriega ausgemacht. Noriega, bekannt für Morde, Folter, Korruption und Drogenhandel, stand jahrelang auf der Gehaltsliste der CIA und wurde von mehreren US-Präsidenten hofiert. Als er den Panama-Kanal der US-Kontrolle zu entziehen versuchte, wurde er durch eine Invasion der USA militärisch gestürzt.

Derrida geht es vorrangig nicht um eine Anklage spezifischer Verbrechen der USA. Wichtiger ist es ihm, den in der Logik, Geschichte und Struktur des Begriffs Souveränität bereits angelegten »Schurken­staat« frei zu legen. »Sobald es Souveränität gibt, gibt es Machtmissbrauch und rogue states«, schreibt er und folgert: »Der Staat ist schurkisch.« Wenn man Derridas philosophisches und politisches Vermächtnis, als das man »Schurken« lesen kann, auf eine Formel bringen will, dann stellt er »die Souveränität im Namen der Unbedingtheit in Frage«.

Die herausragende Figur der »Unbedingtheit ohne Souveränität« im Denken Derridas ist in seinen letzten Jahren die der »unbedingten Gastfreundschaft«. Das Kommen des Anderen wird unbeschränkt erwartet – ohne Asylrecht, Einwanderungsrecht oder Staatsbürgerschaft. Dabei ist ihm die Fallhöhe zwischen »dem Kommenden« und »dem Anwesenden« völlig klar. Einen Begriff wie die »kommende Demokratie« belässt er im Stand der Erwartung, Erläuterungen darüber, wie der Begriff im Einzelnen zu denken ist, bleiben aus. Sicher ist nur, dass sich die »kommende Demokratie« nicht auf den Staat beziehen kann, egal ob als National- oder als »Weltstaat«, wie die sozial­demokratische Variante des Auswegs aus dem Horror heißt.

Denn der Horror ist bereits da. Die »so genannte Globalisierung« (Derrida) birgt mehr Ungleich­heit und Gewalt als je zuvor. Gewalt etwa ist heute nicht mehr unter dem europäisch-staatsrechtlichen Begriff des Kriegs zu fassen: Im Irak-Krieg werden viele »Arbeiten« von privaten, global agie­renden Sicherheitsfirmen »erledigt«; terroristische Gewalt ist im Unterschied zum Bürger- oder Parti­sanenkrieg nicht mehr auf einen zu befreienden, zu gründenden oder zu bekämpfenden Staat gerichtet; die »neue« Gewalt zeigt, dass das Ende des Kriegs nicht Frieden, sondern sein Gegenteil bedeutet.

Die Attacke auf die Souveränität ist also keine aka­demische, spekulative Übung eines begrifflich über­reizten Philosophen, sondern »sie ist das, was geschieht«. Derridas »Schurken« sind der Versuch, der neuen Barbarei ein vernünftiges Denken in Katego­rien der uralten Frage des Lebens gegenüberzustellen, also auch der Frage nach »Sein und Zeit«. »Dies­mal allerdings eher mit dem Akzent auf der Seite des Lebens als der des Todes«, schreibt Derrida. Und damit hat er dann doch noch etwas gegen Martin Heidegger geäußert. Man kann darin nur wenige Worte sehen. Oder aber eine ganze Welt.

Jacques Derrida: Schurken. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M. 2006. 219 S., 10 Euro