Dann eben Plan B

In der Türkei schaut man sich nach Alternativen zur EU um von anton landgraf

Der Optimismus ist verflogen. Nur ein Jahr nach ihrem Beginn befinden sich die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei in einer schweren Krise, sichtbar geworden an der derzeit kaum lösbaren Zypern-Frage. Sowohl die Union wie der Kandidat zweifeln zunehmend an dem Sinn des Beitritts – und suchen nebenbei schon nach anderen Optionen.

Nach Ansicht der EU gab es in den vergangenen zwölf Monaten keine nennenswerten Fortschritte bei der Anwendung der zahlreichen Reformgesetze. Stattdessen werden die Strafprozesse gegen liberale türkische Intellektuelle wegen »Verunglimpfung des Türkentums« ebenso als Rückschritt gewertet wie die Äußerungen führender Militärs, die Reformen würden die Stabilität des Landes gefährden.

Doch auch die EU hat ihre Attraktivität längst eingebüßt. In der Türkei glauben viele, dass der Beitritt gar nicht gewollt sei und ­Europa immer neue Hindernisse erfinde, um ihn zu verhindern. So zum Beispiel das neue Gesetz in Frankreich, dass die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe stellt. Oder das wachsende Interesse für religiöse Minderheiten, insbesondere für die christlichen Gemeinden. Einer aktuellen Umfrage zufolge befürwortet nur noch ein Drittel der Türken den EU-Beitritt, während 78 Prozent der Befragten kundtun, kein Vertrauen in die EU mehr zu haben. Noch vor zwei Jahren war dies genau umgekehrt. Zugleich steigt die Zahl derjenigen, die angesichts der überaus positiven wirtschaftlichen Entwicklung des Landes meinen, dass die Türkei gar nicht mehr auf die Union angewiesen sei.

Die AKP-Regierung unternimmt derzeit wenig, um diese Stimmung zu verändern. Im kommenden Jahr werden der Staatspräsident und das Parlament neu gewählt. Die Betonung nationaler Interessen scheint der AKP aussichtsreicher als die endlosen und als demütigend empfundenen Verhandlungen mit der EU. »Wir können auch anders«, lautet daher die trotzige Parole, unter der sich unterschiedliche Kräfte wiederfinden. Denn bei allen Bemühungen um den EU-Beitritt gerieten zwei andere geopolitische Alternativen nie ganz in Vergessenheit: die Annäherung an die arabisch-islamische Welt sowie eine intensivere Verbindung mit den zentralasiatischen Staaten mit überwiegend turksprachiger Bevölkerung. Noch gilt Europa als am attraktivsten. Doch wenn es nicht klappt mit dem Beitritt, werden die anderen Optionen interessant.

In den neunziger Jahren herrschten im Kaukasus und in Zentralasien wirtschaftliches Chaos und Bürgerkrieg. Das hat sich geändert, wie sich in der »Organisation für Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung« (Guam) zeigt, dem Zusammenschluss ehemaliger sow­jetischer Republiken. Einige Mitgliedsstaaten dieser Organisation sind wegen ihrer großen Öl- und Gasvorkommen äußerst attraktive Handelspartner. Erst kürzlich wurde die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline von Aserbaidschan in die Türkei eingeweiht. Andere Projekte sollen bald folgen. Zudem ist die pantürkische Option in großen Teilen der Bevölkerung bis hi­nein in die kemalistische Elite populär.

Zugleich wird auch im Nahen und Mittleren Osten nach dem Scheitern der USA im Irak einiges anders werden. Spätestens seit dem ersten Golfkrieg ist sich die Türkei ihrer geostrategischen Rolle in der Region bewusst. Die Versuchung liegt nahe, sich hier als regionale Ordnungsmacht mit ausgeprägten wirtschaftlichen Interessen zu profilieren. Eine Perspektive, die in religiös-fundamentalistischen Kreisen Unterstützung finden würde.

Für Europa bedeuten diese Optionen nichts Gutes – und ebenso wenig für alle Türken, die von despotischen Staaten und reaktionären islamistischen Regimes nichts halten.