Nationaler Trotz

In der Türkei schwinden die Hoffnungen auf einen Beitritt zur EU, Kopfzerbrechen bereitet das jedoch immer weniger Menschen. von jan keetman, istanbul

Zwischen der EU und der Türkei verhärten sich derzeit die Fronten – scheinbar wegen Zypern, aber es ist offensichtlich, dass es auf beiden Seiten viele gibt, denen diese Entwicklung durchaus recht ist. Die türkische Bevölkerung steht geschlossen hinter ihrer Regierung und deutet die Forderung der EU nach einer Unterschrift unter ein Zusatzprotokoll zur Zollunion als Versuch, der Türkei die Türe zu weisen. Tatsächlich würden einige in der EU diese Gelegenheit gerne nutzen, herbeigeführt aber hat sie die türkische Regierung genauso wie Europa.

Mit etwas Abstand betrachtet, erweist sich die gegenwärtige Krise als cleveres Manöver von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seinem Außenminister Abdullah Gül. Zunächst sicherten sie notgedrungen die Unterschrift unter das Zusatzprotokoll zu, die es zyprischen Schiffen erlauben würde, türkische Häfen anzulaufen, weil ohne diese Quasi-Anerkennung Zyperns die Aufnahme der Beitrittsgespräche nicht zu erreichen war. Kaum hatten sie diesen politischen Erfolg erzielt, begannen sie die Debatte um die Unterschrift von vorne. Innenpolitisch hat man die Opposition damit ausgetrickst, hatte die sich doch gerade darauf vorbereitet, den Ausverkauf türkischer Interessen an die EU zu einem großen Wahlkampf­thema bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr zu machen. Wenn auch die Wirtschaft weiterhin so gut läuft wie bisher, bleibt der Opposition nur noch die »islamische Unterwanderung«.

Auf dieses Thema aber reagiert unter den gegenwärtigen Umständen nur ein beschränkter Wählerkreis, am wenigsten die untere Mittelschicht, die für nationale und religiöse Themen gleichermaßen empfänglich ist und aus der die Regierungspartei AKP die Masse ihrer Wähler rekrutiert.

Darüber hinaus scheinen Erdogan und Gül auch zu hoffen, dass sie hinsichtlich Zyperns doch noch etwas erreichen. Das Ende der Blockade Nordzyperns, die für die Türkei eine ökonomische Last bedeutet, würde es erlauben, den Norden in ein äußerst lukratives Ferienziel zu verwandeln. Mal sehen, was wir am Ende erreichen, mögen sich Gül und Erdogan dabei gedacht haben.

Doch das Ganze funktioniert nur, weil die Hoffnungen der Türken auf den EU-Beitritt ohnehin im Schwinden begriffen sind. Nur ganz wenige werfen Erdogan vor, er riskiere mit seinem Bestehen auf dem Ende des Embargos gegen Nordzypern den EU-Beitritt. Der Machtantritt von Angela Merkel und mehr noch der Umstand, dass in den beiden kritischsten Ländern, Frankreich und Österreich, Referenden über einen EU-Beitritt stattfinden sollen, haben den EU-Befürwortern so ziemlich jede Hoffnung genommen. Dass die Türkei eine spezielle Behandlung erfährt, die bisher kein Beitrittskandidat über sich ergehen lassen musste, ist offensichtlich.

Vor vier Jahren brauchte Erdogan das Europa-Projekt dringend. Das kemalistische Establishment hatte den Wahlsieg von dessen AKP noch nicht verkraftet. Gegen die Partei war ein Verbotsverfahren anhängig, Erdogan selbst durfte sich nicht politisch betätigen. Doch wie soll man einen Mann aus dem politischen Geschäft halten, der in Washington empfangen wurde, der dem Westen zwei Monate nach den Anschlägen vom 11. September 2001 einen Weg zum Dialog mit der islamischen Welt eröffnete?

Mit der Annäherung an die EU ließen sich außerdem zwei strategische Ziele verfolgen. Die Demokratisierung der Gesellschaft, so rechneten jedenfalls Erdogan und Gül, wäre der einzige Weg, den Einfluss des Militärs im Staat zurückzudrängen. Zudem hatte sich unter der Regierung Ecevit gezeigt, dass die türkische Wirtschaft stark von den EU-Aussichten der Türkei profitieren konnte.

Alle diese Parameter haben sich mitt­lerweile geändert. Gegenüber dem Kemalismus kann Erdogan sich jetzt vor allem als erfolgreich erweisen, wenn er sich als beinharter Vertreter türkischer Interessen gibt. Außerdem haben Erdogan und seine AKP eine schwere Enttäuschung erlitten, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Klage einer Studentin gegen das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten abwies. Erdogan erfüllte dies so sehr mit Zorn, dass er zum Telefonhörer griff und dem Vorsitzenden Richter persönlich sagte, dass das Urteil ohne die Zuziehung eines Gutachtens über die Pflichten im Islam nicht rechtens sei. Seither hat die türkische Regierung wenig Lust auf weitere Demokratisierungen. Damit läuft auch die Opposition mit ihrem Vorwurf des nationalen Ausverkaufs einmal mehr ins Leere.

Schließlich haben sich auch die ökonomischen Grundlagen geändert. Die türkische Wirtschaft ist über 18 Quartale lang stark gewachsen. Die Inflation ist von über 60 auf zehn Prozent gesunken. Der Zustrom ausländischen Kapitals hält unvermindert an. Auch das führt zu einem nationalistischen Reflex gegen den »Ausverkauf«.

Der Handel mit der EU steht zwar weiterhin an erster Stelle, aber die islamischen Nachbarn, Syrien, Irak und Iran, haben aufgeholt. Beim islamischen Unternehmerverband Müsiad sieht man darin eine Reaktion auf die EU-Politik. Tatsächlich dürften drei andere Faktoren eher eine Rolle spielen: das Ende des Irak-Embargos, die entspannteren Beziehungen zu Syrien und der hohe Ölpreis. Aber was immer die Gründe auch sein mögen, die türkische Wirtschaft hat sich weiter nach Osten orientiert. Und auch arabische Golfstaaten zeigen immer mehr Bereitschaft, in Istanbul zu investieren. Dabei kommen kulturelle, politische und rein ökonomische Überlegungen zusammen.

Die Grundlage für den türkischen Wirtschaftsaufschwung ist die Zollunion mit der EU, die nicht in Frage steht. Hingegen bereiten die Auflagen für den Beitritt vielen türkischen Unternehmern Kopfzerbrechen. Riesige Investitionen in den Umweltschutz sind notwendig. Die Europäische Sozialcharta hat die Türkei nur unter Ausklammerung wesentlicher Arbeitnehmerrechte unterschrieben, die türkischen Medien haben es fast nicht, die Opposition gar nicht bemerkt – und die Europäer haben ebenfalls geschwiegen.

Auch mit der türkischen Ökonomie steht es nicht zum Besten, die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Leistungsbilanzdefizit von acht Prozent des Bruttoinlandprodukts macht die türkische Lira im Falle einer Krise anfällig. Trotzdem kann sich die Türkei heute eine von Europa unabhängige Politik weit eher leisten als noch vor vier Jahren.

Die AKP hat außerdem, seit sie an der Macht ist, die Vorzüge des autoritären Instrumentariums entdeckt, mit dem sie einst selbst unterdrückt wurde. Wohl kein Premierminister hat so viele Klagen auf Schadensersatz wegen Beleidigung angestrengt wie Tayyip Erdogan. Eine Änderung des Paragraphen 301, der die »Verunglimpfung des Türkentums« verbietet, wurde der EU zwar versprochen, aber sie kam bislang nicht zustande. Und wenn sie doch noch kommen sollte, so wird es sicher keine vollständige Streichung des Paragraphen sein. Der Paragraph schützt nicht nur das »Türkentum« vor Beleidigung, sondern auch den Staat und seine Institutionen, ein wunderbares Instrument, um die Presse zu zensieren. Die Reihe ließe sich fortsetzen, etwa mit dem neuen Antiterrorgesetz, der Zehnprozenthürde bei Wahlen, den Rechten der Minderheiten usw.

Während der Streit mit der EU zu eskalieren droht, hat Erdogan eine Reise nach Teheran auf sein Programm gesetzt – ein deutliches Zeichen. Doch eine völlige Umorientierung der türkischen Politik ist unwahrscheinlich. Man sitzt nun bereits seit 43 Jahren bei der EU im Wartezimmer. Mittlerweile hat man es sich da richtig bequem gemacht. Wenn es notwendig ist, kann man wieder klopfen, aber gehen wird man nur, wenn man direkt abgewiesen wird. Dann sollen die Eigentümer des europäischen Hauses aber auch die Verantwortung für das Scheitern des Beitritts übernehmen und den politischen Preis dafür bezahlen.