Die Camorra im Kopf

Die organisierte Kriminalität hat Neapel besser im Griff als der Staat. Ihre Herrschaft stützt sich auf einen sozialen Konsens. von marcello anselmo, neapel

Neapel sehen und sterben«, »Neapel, eine Stadt im Krieg«, »Konzernzentrale des Verbrechens«, titelten einige große deutsche Tageszeitungen in den vergangenen Wochen, als die Gewalt zwischen rivalisierenden Camorra-Clans in der süditalienischen Stadt eskalierte und innerhalb von zehn Tagen zwölf Tote forderte. Die italienischen Medien gingen noch weiter und verglichen Neapel sogar mit Bagdad.

Diese Berichte über bürgerkriegsähnliche Zustände in Neapel alarmierten auch die deutsche Zentrale des Goethe-Instituts, die sich vor einigen Tagen über die Sicherheit ihrer Mitarbeiter und Lehrer in der Filiale von Neapel informierte. Hier residiert das Institut in einem historischen Palast in der Mitte des reichsten Viertels der Stadt mit atemraubender Aussicht über den Golf von Capri. Kein Grund zur Sorge für die wichtigste deutsche Kulturinstitution: Es ist viel wahrscheinlicher, dass ihre Mitarbeiter in Neapel einfach nur frustriert sind, weil die Rolle des Instituts für das kulturelle Leben in der Stadt zu unbedeutend ist, als dass sie täglich von kriminellen Banden angegriffen werden.

Die italienischen sowie die internationalen Medien haben Neapel – insbesondere einige Teile der Stadt, die die Camorra komplett beherrscht – in letzter Zeit verstärkt als rechtsfreien Raum dargestellt. Das Bild eines kriminellen Systems, das noch besser organisiert ist als der Staat und Neapel an seiner Statt regiert, machte die Runde. Die mit dem landesüblichen Pathos verbreitete Darstellung einer Stadt in Geiselhaft, deren »Zivilgesellschaft« unter der Kriminalität zu zerfallen droht, simplifiziert jedoch eine soziale, kulturelle und ökonomische Realität, die viel komplexer ist.

Von Bildern und Geschichten darüber, wie die Camorra den Alltag größerer Teile Neapels im Griff hat und wie die Bewohner und Besucher der Stadt verängstigt werden, waren in den vergangenen Wochen alle Zeitungen, Fernsehnachrichten und Polit-Talkshows voll. Dabei beschränkte man sich auf ein oberflächliches Bild, was zur Folge hatte, dass nur die Rufe nach »mehr Sicherheit auf den Straßen« verstärkt wurden. Die Regierung reagierte mit dem Versprechen, mehr Polizeibeamte nach Neapel zu schicken und die gefährlichen Ecken der Stadt 24 Stunden am Tag per Video überwachen zu lassen. (Jungle World, 45/06). Diese wiederholt beschworene Emergenza Napoli (Neapel im Ausnahmezustand) dient nicht zuletzt auch den regierenden Eliten als Alibi für ihre fehlende politische Intervention.

»Heute wollen alle in Neapel mitspielen«, singt die HipHop-Gruppe Co’Sang. Sie kommt aus Scampia, der nördlichen Peripherie der Stadt, die in den vergangenen zwei Jahren zur berüchtigtsten Vorstadt Italiens wurde. Dort wohnen offiziell 50 000 und inoffiziell weitere 30 000 Menschen. 2004 spaltete sich ein mächtiger Clan, der die Gegend kontrollierte. Es folgte ein Bandenkrieg zwischen rivalisierenden Gruppen, der in einem einzigen Jahr 139 Tote forderte.

Co’Sang singen über das Leben im Camorra-Ghetto, dort, wo »der Hosengürtel nach der Farbe der 9x21« (9x21 ist ein spezielles Kaliber für Pistolenmunition, A.d.Ü.) ausgesucht wird. Erfolg und Reichtum seien gefährliche Illusionen, lautet ihre Botschaft. Das ist nicht so banal, wie es klingt, in einer Stadt, in der vor allem in den Sommermonaten rund 700 so genannte scippi (Entreißdiebstähle) – ungefähr zwölf pro Tag – haupt­sächlich im Stadtzentrum angezeigt werden. Insbesondere Touristen, die Schmuck oder teure Accessoires tragen, sind bei den Kleinkriminellen beliebte Opfer. Touristen sind wie Bargeld, das auf dem Territorium der Gangs spazieren geht.

In der ärmeren Peripherie, wo sich keine Touristen hintrauen, nährt die Camorra unter Jugendlichen den Traum vom leicht verdienten Geld und von einer kriminellen Karriere. Wer es schafft, in einem Clan »aufzusteigen«, wird seinerseits zum Erfolgsmodell für die Jüngeren.

Um die in der Bevölkerung verbreitete Verunsicherung zu erklären, wird die Straßenkriminalität immer an erster Stelle genannt. Auf den Straßen Neapels ist es gewalttätiger geworden, auch wenn seit Anfang 2006 der Camorra-Krieg lediglich ca. 70 Tote forderte, ungefähr halb so viele wie 2004. Das liegt daran, dass sich die Struktur der organisierten Kriminalität in den vergangenen Jahren verändert hat. Die Clans machen ihre wichtigen Geschäfte nicht mehr innerhalb der Stadt, sondern in der Peripherie. Auf den Straßen des Zentrums bleiben sich ständig neu formierende kleine Gangs, die sich der Kontrolle der großen Clans entziehen. Die diffuse Bandenkriminalität ist eine direkte Folge der Auflösung der Zentralmacht der Camorra in der Stadt zugunsten peripherer Strukturen. Diese so genannte Mikrokriminalität verstärkt bei Bewohnern und Touristen die Angst und lässt sie immer lauter nach mehr Sicherheit rufen.

»In unseren Sätzen ist das Wort Revolution ein Fremdwort«, singen Co’Sang. Die heruntergekommenen neapolitanischen Vorstädte, jene Zonen, die vollständig von der Camorra kontrolliert werden, bringen keine revoltierenden Jugendlichen hervor. Die wirklichen Macht­zentren der Camorra reichen von der gesamten Nord- und Ost-Peripherie der Stadt bis zur angrenzenden Provinz Caserta. Von der Peripherie aus agieren die Clans wie nationale und internationale Konzerne. Als Säule des kriminellen Business gilt in erster Linie der Drogenhandel – in Scampia gibt es das billigste Kokain in ganz Europa zu kaufen –, Geld kommt außerdem von Großaufträgen im Baugewerbe, vom Waffenhandel, von illegaler Müllentsorgung, Schutzgelderpressung und von den Geschäften mit gefälschten Markenwaren. In den von ihr kontrollierten Zonen ist die Camorra in der Regel der einzige Arbeitgeber.

Wie sich ihre Macht ausbreitet und geographisch, ökonomisch und politisch verteilt, hat der Schriftsteller Roberto Saviano in seinem Buch »Gomorra« gut dokumentiert. Darin beschreibt er die Geschäftspraktiken der Camorra bis ins Detail und nennt außerdem die Bosse mit Vor- und Nachnamen. Die Camorra reagierte auf diese »Provokation« mit Morddrohungen, der junge Autor wurde unter Polizeischutz gestellt und hält sich seit der Veröffentlichung seines Buches an einem geheimen Ort auf. Das, was Saviano in seinem Buch »System« nennt, bezieht sich nicht nur auf die territoriale Organisation der Camorra, sondern auf einen Kreislauf, an dem alle beteiligt sind, auch diejenigen, die in den Medien die »Zersetzung« der Stadt beschwören.

Selten wird der Blick auf das lokale politische System gerichtet.

Die Linke regiert die Stadt seit anderthalb Jahrzehnten. Anstatt an Entwicklungsmaßnahmen zu arbeiten, hat sie es vorgezogen, ein System des politischen Klientelismus aufzubauen, in das sogar die Parteien der »radikalen« Linken verwickelt sind. Die Kommunalpolitik in all ihren Formen ist faul geworden. Die in der Region regierende Linke, die im öffentlichen Diskurs gerne die »Kultur der Legalität« propagiert, betreibt nur noch die regionale Politmaschinerie, und ihre Haupt­beschäftigung scheint es zu sein, Posten in öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern oder bei großen Bauaufträgen zu verteilen.

In den neunziger Jahren finanzierte die EU in der Region Fortbildungskurse für junge Leute und Arbeitslose. Die Teilnehmer bekamen eine Förderung von 2,5 bis 14 Euro pro Stunde. Bald entwickelte sich ein System, wonach es immer dieselben Leute waren, die an den Kursen teilnehmen durften. Diese Leute bedankten sich dann bei den Politkern, die dies möglich gemacht hatten, wie man es bei den Regionalwahlen in den vergangenen Jahren be­obach­ten konnte: Der regierende Präsident der Region Campanien, Antonio Bassolino, wurde bei den Regio­nalwahlen 2005 mit über 60 Prozent der Stimmen in seinem Amt bestätigt, ebenso wie die regierende Bürgermeisterin von Neapel, Rosa Russo Jervolino, die in diesem Jahr mit fast 60 Prozent der Stimmen zum zweiten Mal gewählt wurde.

Anstatt einen Konflikt zu wagen, haben die in der Stadt aktiven sozialen Bewegungen es vorgezogen, sich dem linken Flügel der Mitte-Links-Koalition anzuschließen. Die Bewegung der Disobbedienti etwa hat ihren Anführer, Francesco Caruso, für Rifondazione Comunista ins Parlament geschickt. Dort sieht er sich als »Vertreter der sozialen Bewegungen«, dient aber vor allem dazu, die Nähe der Bewegung zur Partei zu repräsentieren.

Was übrig bleibt, ist eine konkrete, vom politischen Aktivismus völlig abgekoppelte Basisaktivität, die insbesondere in den Vorstädten stattfindet. Eine Reihe von Gruppen, die Sozial- und Integrationsarbeit betreiben, konzentriert sich in den Peripherien auf die prekäre Lebenssituation von Migranten und versucht, sie in Kontakt mit den lokalen Bewohnern zu bringen. Solche Gruppen sind auch in den ärmsten Vierteln des Zentrums aktiv – Quartieri Spagnoli, Sanitá, Montesanto –, wo die Kriminalitätsraten sehr hoch sind. Dort versucht man, mit kulturellen und bildungspolitischen Initiativen vor allem an die jungen Bewohner heranzukommen.

Neapel besteht aus mehreren Systemen, nicht nur aus zweien – einem »guten« und einem »schlechten« –, die sich bekämpfen. Es gibt kriminelle Clans, die zumindest einige Teile des Territoriums vollständig kontrollieren. Das betrifft den Bereich der Regionalpolitik sowie den wirtschaftlichen Sektor. Über diesen Zustand herrscht ein diffuser sozia­ler Konsens, der sich in der Gesellschaft in kleinen, aber unmittelbaren Zeichen manifestiert. Es handelt sich um Formen der Komplizenschaft mit dem System, die somit die Berührungspunkte zwischen sozialen Gruppen markieren, die im öffentlichen Diskurs als einander entgegengesetzt dargestellt werden.

Einerseits gibt es eine hochnäsige Bourgeoisie, die sich mit den Verhältnissen in der Stadt längst abgefunden hat und in einem relativ friedlichen Alltag leben kann. Dieser Frieden hat aber seinen Preis, er wird ständig durch kleine Summen erkauft: Bezahlt wird beispielsweise für die »Sicherheit« des eigenen Ladens oder des Familienautos. Dieser informelle »Versicherungsschutz« betrifft alles, was gestohlen, beschädigt oder zerstört werden kann. Auf der anderen Seite findet sich eine »Unterschicht«, die oft für aggressiv und »tendenziell zur Mikrokriminalität neigend« erklärt wird. Dazwischen ist eine kleinbürgerliche soziale Schicht, deren Grenzen fließend sind, und Bereiche, in denen die Logik der Komplizenschaft alle sozialen Unterschiede aufhebt.

Als Beispiel kann die Wohnsituation in der Stadt betrachtet werden: Ein Großteil der Wohnungen wird ohne jegliche Form von Mietvertrag an Studenten oder Arbeitnehmer einfach schwarz vermietet. Eine Sechs-Zimmer-Wohnung bringt dem Eigentümer ca. 3 600 Euro im Monat. Es werden in der Regel keine Zimmer, sondern Schlafplätze vermietet, in Zwei- oder sogar Dreibettzimmern für bis zu 300 Euro monatlich. Es gibt einige universitätsnahe Viertel in der Stadt, wo das Geschäft mit den Mieten ein wenig Wohlstand bringt. Mit Schwarzmiete erwerben nicht nur skrupellose Spekulanten oder Camorra-Bosse Geld, sondern auch ganz normale, kleinbürgerliche Wohnungsbesitzer. Das ist nur ein Beispiel für die Schizophrenie einer Stadt, in der häufig unter »Illegalität« nur die Schießereien auf offener Straße verstanden werden, während das verbreitete und sozial legitimierte illegale Verhalten einfach zur Normalität gehört.

Die Neapolitaner bedienen sich häufig dieser informellen Kleinökonomie, die den persönlichen Nutzen in den Vordergrund stellt und das kollektive Interesse benachteiligt. Selbst die bürgerliche Oberschicht zieht es vor, sich der gegenwärtigen Funktionsweise der Stadt anzupassen, schlicht und einfach, weil das sich als bequemer und rentabler erweist.

Ein Beispiel dafür sind Neapels Anwälte. Nirgendwo anders in Italien werden so viele Anwälte gebraucht wie hier. Jemanden zwei, drei, vier Mal hintereinander zu verteidigen, bringt viel Geld. Woher dieses Geld kommt, wissen die Verteidiger von Anhängern der verschiedenen Camorra-Clans ganz genau. Sie werden gut bezahlt, und das Geld kommt in der Regel pünktlich. Die Verteidigungsprofis kennen die Aktivitäten ihrer Mandanten in der Regel sehr gut, aber moralische Bedenken spielen keine Rolle. Einen guten Verteidiger können sich natürlich nur die Bosse leisten, seltener die kleinen Fische, niemals die Mikrokriminellen. Letztgenannte müssen sich von Pflichtverteidigern vertreten lassen. Auch in diesem Bereich hat sich mittlerweile ein eigener Markt entwickelt. Das Blühen dieses Verteidigungsmarkts ist ein weiterer Aspekt der diffusen Komplizenschaft mit dem System, die in dieser Stadt herrscht.

Ein lokaler Radiosender, der auch in den Gefängnissen der Region Campanien gehört werden kann, sendet täglich die Lieder der ca. 5 200 so genannten neomelodischen Sänger und Sängerinnen der Stadt. Zwischendurch werden immer wieder Anrufe zugeschaltet, in denen Hörer jemanden grüßen, der im Gefängnis sitzt. Es sind in der Regel Mütter, Ehefrauen, Töchter und Schwestern von Gefangenen: »An meinem Bruder, der in Poggioreale sitzt: Ich liebe dich, du bist mein ganzes Leben!« Manchmal muss der Moderator die Anrufe unterbrechen, weil die Mitteilungen zu explizit werden: »Der Anwalt meinte … Tonino hat etwas für dich …« Die Sendung verrät viel über Neapel. Kriminalität ist ein allgegenwärtiges soziales Phänomen, und für viele Familien gehört das Gefängnis zum Alltag. Fast jeder hat einen Vater, einen Bruder oder einen Onkel, der im Gefängnis sitzt. Für eine Schande wird das selten gehalten.

Die Häftlinge soll das Gefängnis fit für das Leben machen, es ist eine Art Etappe in der kriminellen Karriere.

Das Gefängnis Poggioreale war bis vor dem vergangenen Sommer – als die Regierung einen Strafnachlass beschloss, wodurch etwa ein Drittel der insgesamt ca. 60 000 Insassen der italienischen Gefängnisse entlassen wurde – das überbelegteste Gefängnis Europas mit ca. 2 300 Gefangenen in Räumen, die für 1 100 gebaut worden waren. Die Gefängnisse im Süden des Landes sind noch von italienischen Gefangenen bevölkert, während in Mittel- und Norditalien über 30 Prozent der Gefangenen nicht italienischer Herkunft sind.

Einen Ausnahmezustand gibt es in Neapel nicht. Die emergenza ist ein Zustand, in dem sich die Stadt unbewusst immer befindet. Das bedeutet, dass es hier keine Perspektiven für eine ökonomische und kulturelle Entwicklung gibt, dass die Stadt nicht in der Lage ist, ihre aktiven und lebendigen Kräfte zu entwickeln. Emergenza in Neapel bedeutet, dass hier immer alles auf eine Frage der öffentlichen Ordnung reduziert wurde, während das Hauptproblem ein soziales ist.

Notwendig wäre es, anstatt sich nur auf die militärische Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu konzentrieren, gegen die Osmose legaler und illegaler Verhaltensweisen vorzugehen, die den Alltag dieser Stadt kennzeichnet.

Der Ausnahmezustand, den die Medien immer wieder ausrufen, ist hier Alltag. Die Straßen sind ständig von Blitzlichtern beleuchtet, die Helikopter von Polizei und Carabinieri fliegen immer sehr niedrig; das soll unter den Bürgern das Gefühl erwecken, dass die Behörden doch etwas gegen die Kriminalität unternehmen. Manchmal führen die groß angelegten Operationen zur Verhaftung von lange gesuchten, angeblich untergetauchten Camorra-Bossen, die gemütlich bei sich zu Hause wohnen, oder zur Beschlagnahme von eher lächerlichen Drogenmengen. Nachdem neulich erneut der Notstand ausgerufen worden war, haben die Regierungen von Provinz, Region und Stadt Sonderfonds beschlossen, um mehr Polizisten einzustellen.

Das führt jedoch nicht zum erhofften Ziel, denn diese Kriminalität kann nicht militärisch bekämpft werden. Man kann sie auf diese Art durchaus kurzfristig schwächen, aber es ist nur eine Frage der Zeit, dass die Strukturen wieder rekonstruiert werden. Eine Verstärkung der Polizeikräfte hat nur eine spektakuläre Wirkung und war notwendig, weil nach den jüngsten Ereignissen eine Reaktion verlangt wurde. Wenn die verschiedenen und oft versteckten Ebenen der Komplizenschaft nicht bekämpft werden, wird es mit Neapel weiter bergab gehen. Die kulturelle Distanz zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen ist enorm. Die Bildungspolitik in der Peripherie ist unangemessen und unfähig, Alternativen zum Lebensstil der Camorra aufzuzeigen. Dort gilt: Arbeit ist anstrengend, es gibt andere Wege, um über die Runden zu kommen.