Man lebt nur zweimal

Wem es in dieser Welt zu langweilig ist, der sollte erst mal das Paralleluniversum besuchen! Die Jungle World schickte ihren Reporter markus ströhlein durch die Cyberwelt – ohne jeden Linden-Cent

Manche Menschen heißen wirklich Mechthild oder Gunda, Eckehard oder Oswald. Sollten sie wegen der Wahl der Vornamen sauer auf ihre Eltern sein, könnte man es verstehen. Man sollte aber auch nachsichtig sein.

Denn sich einen Namen auszusuchen, ist nicht einfach. Ich kann das bestätigen. Seit Minuten sitze ich da und überlege, welchen neuen Vornamen ich mir geben soll. Mir sind keinerlei Beschränkungen auferlegt. Ich könnte mich also Agfa, Atomfried, Bierstübl, Ogino, Sputnik oder Störenfried nennen. Die Liste der von deutschen Standesämtern abgelehnten Vornamen ist lang. Aber über schier unbegrenzte Möglichkeiten zu verfügen, macht die Entschei­dung nicht leichter.

Bei der Wahl meines neuen Familiennamens verhält es sich anders. Hier muss ich mich für einen Namen aus einer vorgegebenen Liste ent­scheiden. Mit der Sippe, der ich zugeteilt werde, muss ich mich also auch dieses Mal wieder abfinden. Aber Bosch, Hofmann, Lehmann, Reiter oder Seisenbacher möchte ich nun wirklich nicht heißen. Diese Namen scheiden schon einmal aus. Ich wäge noch kurz ab, fasse einen Entschluss und schicke die Anfrage ab, ob mein Wunschname schon von einer anderen Person benutzt wird. Nach kurzer Zeit erhalte ich die Antwort des Systems: »Herzlichen Glückwunsch, der Second-Life-Name Flitzpiep Boronski ist noch zu vergeben.«

Der erste Schritt in ein neues Leben ist getan. Die Welt, die sich mir eröffnet, heißt »Second Life«. Seit dem Jahr 2003 gibt es den virtuellen, dreidimensionalen Kosmos. Erschaffen wurde er von den Programmierern der Firma Linden Lab. Das Unternehmen aus San Francisco hatte es sich bei seiner Gründung 1999 zum Ziel gesetzt, eine neuartige und außergewöhnliche Form der Multimedia-Unterhaltung zu entwickeln, die über das Internet möglichst vielen Benutzern zugänglich und in einem hohen Maß interaktiv sein sollte. Die Entwickler von Linden Lab waren vorher bei den Großen der Unterhaltungsindustrie angestellt wie Elec­tronic Arts, Disney, Hasbro oder Mattel. Was sie sich in ihrer mehrjährigen Arbeit ausgedacht haben, findet zurzeit recht schnell ein größeres Publikum. Im Oktober meldete Linden Lab eine Million »Einwohner« bei »Second Life«. Mittlerweile sind es zwei Millionen.

Noch befinde ich mich aber nicht unter meinen neuen »Mitmenschen«. Wer sich bei »Second Life« anmeldet, muss sich nicht nur neue Namen, sondern auch einen neuen Körper aussuchen. Dazu bietet das Programm zwölf vorgefertigte Modellcharak­tere, so genannte Avatare an, aus denen man auswählen kann. Man steht vor einer grundlegenden Entscheidung: Will ich ein Mann oder eine Frau sein? Da ich schon in meinem ersten Leben ein Mann bin, wähle ich den Avatar »City Chic Female« aus. Es ist auch möglich, sich z.B. in eine »Cybergoth Female« oder eine »Furry Female« zu verwandeln. Aber ich möchte nicht aussehen wie Marilyn Manson oder ein Hamster auf zwei Beinen.

Im nächsten Schritt der Anmeldeprozedur werden mir 250 Linden-Dollar in Aussicht gestellt, wenn ich die Daten meiner Kreditkarte hinterlasse. 1 250 Linden-Dollar erhielte ich, ließe ich mich als Premiummitglied registrieren. Dies wäre aber nur gegen einen Monatsbeitrag von knapp zehn US-Dollar möglich. Ich nehme die einfache Mitgliedschaft, die nichts kostet. Gewiss wäre es nicht schlecht, Linden-Dollar zu besitzen. Schließlich sind sie das Zahlungsmittel in »Second Life«. Ich verzichte aber auf das Begrüßungsgeld. Ich will endlich hinein in mein neues Leben.

Vorher werde ich noch mit den Regeln vertraut gemacht, die in der Inter­netwelt gelten. Die »Verfassung« beruht auf einem schlichten Grundsatz: Wer sich der »Großen Sechs« schuldig macht, fliegt hinaus. Es gibt sechs Kapitalverbrechen in »Second Life«: die Intoleranz, die Belästigung anderer, Übergriffe auf andere, die Enthüllung von persönlichen Daten der Menschen hinter den Charakteren, anzügliches Verhalten und das Stören des öffentlichen Friedens. Ich stimme den Regeln zu, und dann ist es soweit: Eine Landschaft taucht auf dem Bildschirm auf. Ein Satz kündigt an: »Dein Charakter wird gleich erscheinen!«

Da bin ich. Zunächst stehe ich vollkommen nackt im Gras, dann steckt mich das Programm doch noch in meine Kleider. Sie sind nicht gerade schick. Aber schon an der ersten Station der Trainingsrunde, die jeder Neuling bei »Second Life« hinter sich bringen muss, kann ich mir eine Hose und ein Oberteil meiner Wahl aussuchen. Und nicht nur seine Kleidung kann man wählen. Man kann den eigenen Körper in allen Details ge­stalten. Ich verzichte auf Tränensäcke und Falten im Gesicht, verpasse mir aber überaus drollige Pausbäckchen. Da ich im richtigen Leben immer Probleme mit zu kurzen Bettdecken habe, fällt die Entscheidung leicht: Ich will klein sein. Und um dem Sonnenbrand vorzubeugen, wähle ich einen recht dunklen Hauttyp.

Nun sehe ich auch die ersten anderen Figuren. Nicht weit entfernt steht Iron­shirt Eriksen. Sein Kopf ist nach vorn gefallen, so als sei er im Stehen eingenickt. Es wird angezeigt, dass er abwesend ist, der Spieler hat also die Figur seit mehreren Minuten nicht mehr bewegt. Ein bärtiger Mann namens Lawrence Lupino kommt auf mich zu und bietet mir seine Freundschaft an. Das ist sehr nett, aber ich habe jetzt keine Zeit für zwischenmenschliche Kontakte. Schließlich geht es in der Trainingsrunde darum, die grundlegenden Dinge zu lernen. Wie redet man in »Second Life« mit anderen, wie bewegt und benutzt man Gegenstände? Und vor allem: Wie fliegt man? Richtig schwierig gestalten sich diese Tätigkeiten nicht. Selbst das Fliegen ist leicht. Eine Taste muss man drücken, schon hebt man ab.

Wer das Training absolviert hat, kann die Insel verlassen, auf der es stattgefun­den hat. Das geschieht weder zu Fuß, noch fliegt man davon. Man benutzt eine weitere mögliche Fortbewegungsart: das Teleportieren. Auf einen Knopfdruck hin wird man innerhalb weniger Sekunden in eine andere Region der weitläufigen Welt befördert.

Ich habe keine Ahnung, wo mich der Teleporter abgesetzt hat. Ich stehe auf einem kleinen Platz. Auf dem Weg daneben laufen Figuren vorüber. Zwei Bekannte treffen sich zufällig und plaudern kurz, ehe sich der eine verabschiedet, um mit Freunden in ein Café zu gehen. Ich streife für eine gewisse Zeit recht ziellos umher und lerne so einen Grundzug von »Second Life« kennen. Das Spiel hat schein­bar kein Ziel. Man muss keine Aufgaben erfüllen, um eine höhere Schwierigkeitsstufe zu erreichen. Es gibt keine vorgegebene Handlung. Was in dieser Welt geschieht, hängt von den Aktivitäten der Benutzer ab.

Ich entscheide mich für eine Rundreise. Auf der Karte, die jede Figur mit sich führt, formen Gebäude in einer anderen Region das Wort »Pferde«. Ein kurzer Sprung mit dem Teleporter genügt, um dorthin zu gelangen. Ein Schild empfängt den Besucher: »Willkommen auf McLean’s Pferdefarm!« Tatsächlich stehen etliche Pferde auf einer Weide. Hier hat sich also jemand richtig Mühe gegeben. Schließ­lich haben nicht die Angestellten von Linden Lab die virtuellen Tiere erschaffen. Abgesehen von den Avataren haben die Benutzer alle Lebewesen und Gegenstände, die es in »Second Life« gibt, selbst hergestellt. Für die Farm hat also ein Spieler ein Programm geschrieben, das die Pferde erzeugt. Auf einer Werbetafel werden sie angepriesen: »Auf diesen Pferden kann man sogar reiten!«

Die Farm ist weitläufig und verfügt über etliche Ställe. In einem liegt eine kleine Taschenlampe. Jeder weiß: Eine Taschenlampe kann man immer brauchen. Also versuche ich, sie einzustecken. Doch es geht nicht. Die Taschen­lampe blinkt, und neben ihr erscheint ein Preis. Sie kostet 50 Linden-Dollar. Mein Kontostand ist dauernd in der oberen Ecke des Spielfensters eingeblendet. Er beträgt null Linden-Dollar. Ich bin pleite.

Ein Diebstahlversuch bleibt erfolglos. Die Taschenlampe lässt sich nicht bewegen. Für kreative Benutzer ist es aber sehr wohl möglich, Gegenstände zu stehlen. Im November schleuste ein Programmierer den so genannten Copybot bei »Second Life« ein. Mit dem Programm, das die Gestalt eines Kopiergeräts annahm, konnten Gegenstände beliebig vervielfacht werden. Dies geschah zum Unmut ihrer Erfinder. Die Proteste waren groß, einige Läden in den Einkaufsstraßen blieben sogar geschlossen. Die Verantwort­lichen von Linden Lab reagierten und beseitigten das Programm.

Vielleicht hätte ich mich doch als Premiummitglied an­melden und so mit einem Startkapi­tal von 1 250 Linden-Dollar das Spiel beginnen sollen. Man merkt schnell, dass »Second Life« eine Klassengesellschaft ist. Die einfachen Mitglieder, die das Spiel erst nach dem Mai 2006 entdeckt haben, sind die mittellose Unterschicht. Einfachen Mitgliedern, die sich vor dem Juni 2006 angemeldet haben, wird wenigstens wöchentlich ein Betrag von 50 Linden-Dollar gutgeschrieben. Die Premiummitglieder gehören zur Ober­schicht. Sie erhalten nicht nur das Start­kapital, sondern auch ein wöchent­liches Taschengeld zwischen 300 und 500 Linden-Dollar, abhängig davon, wann sie ihr Leben in der virtuellen Welt begonnen haben.

Mit diesem Geld kann man sich nicht nur Gegenstände wie Taschenlampen, Lebewesen wie Pferde oder Dienstleistungen kaufen, wie etwa einen Friseurbesuch. Premiummitglieder sind auch dazu berechtigt, Land zu erwerben. Ein virtueller Quadratmeter kostet einen Linden-Dollar. Üblicher­weise bietet Linden Lab Parzellen von 512 Quadratmetern zum Verkauf an. Auf diesen Flächen können die Besitzer dann Privathäuser für ihre Familien bauen. Heiraten kann man in »Second Life« zwar nicht, aber die Spieler können Beziehungen eingehen, die auch im Display angezeigt werden. Oder Grundbesitzer können Geschäfte auf ihren Flächen eröffnen. Es ist sehr verbreitet, bebaute Grundstücke an andere Spieler weiterzuverkaufen, mit Gewinn natürlich.

Dass die Benutzer auf ihren Gewinn aus sind, ist nicht weiter verwunderlich. Schließ­lich ist der Linden-Dollar an den US-Dollar gekoppelt. Man kann die virtuelle gegen die wirkliche Währung eintauschen. In den vergangenen zwölf Monaten bewegte sich der Wechselkurs zwischen 240 und 350 Lin­den-Dollar für einen US-Dollar. So gibt Lin­den Lab auf der Internetseite stets den Tages­umsatz in der virtuellen Welt in der realen Währung an. Er beläuft sich meist auf über 600 000 US-Dollar.

Die Wirtschaft in »Second Life« wächst zurzeit in jedem Monat um 15 Prozent. Und sie hat auch in der wirklichen Welt schon eine Millionärin hervorgebracht. Die Deutsch-Chinesin Ailin Gräf begann vor mehr als zwei Jahren damit, in der virtuellen Welt Programme zu verkaufen, die den Figuren spezielle Fähigkeiten verschafften, wie beispiels­weise einen Handstand zu vollbringen oder zu tanzen. Dann verlegte sie sich auf den Immobilienhandel. Sie kaufte Grundstücke, bebaute sie und verkaufte sie wieder. Mittlerweile hat sie mit ihrem Unternehmen Anshe Chung Studio mehr als eine Million US-Dollar verdient und beschäftigt in China 20 Mitarbeiter, die virtuelle Häuser entwickeln und verkaufen.

Firmen aus der wirklichen Welt entdecken »Second Life« zunehmend als Werbeplattform. Der Filmverleih 20th Century Fox hielt in dem Spiel eine Premiere von »X-Men: The Last Stand« ab. Die Bekleidungsfirma American Apparel hat ein Geschäft eröffnet und verkauft dort digitalisierte Versionen ihrer echten Kleidungsstücke. Adidas und Reebok wollen nachziehen. Der Autohersteller Toyota bietet Fahrzeuge an, und der Musiksender MTV hielt eine Modenschau ab. Die Nachrichtenagentur Reuters unterhält ein Büro, das über die Neuigkeiten aus der Welt der Computerspiele berichtet. Und auch die Plattenfirmen sehen eine Möglichkeit, Gewinn zu machen. Sie fordern mittlerweile Tantiemen für Musikstücke, die in den Wohnungen, Geschäften, Bars und Clubs in »Second Life« abgespielt werden.

Dass das Spiel kein Ziel besäße und alles, was geschehe, letztlich in der Hand der Benutzer liege, wie Linden Lab behauptet, ist natürlich falsch. Die Akkumulation von Ka­pital ist das Ziel. So lange es in der Außenwelt so läuft, wird es wohl auch im Cyberspace nicht anders sein. »›Second Life‹ ist ein Ort, der eurer Kreativität gewidmet ist. Es geht darum, in einem Moment von etwas zu träumen und es im nächsten zum Leben zu erwecken«, behaupten die Erfinder der virtuellen Welt. So naiv wurde die für den möglichst reibungslosen Ablauf des kapitalistischen Wirtschaftens nötige Ideologie wohl lange nicht mehr formuliert. Das ist fast schon wieder putzig.

Aber was man hervorheben muss: In »Second Life« wird niemand dazu gezwungen, sich zu verdingen. Niemand landet auf der Straße, erhält Hartz IV oder muss verhungern. Niemand muss ein Premiummitglied werden, Land kau­fen und verkaufen und Linden-Dollar scheffeln. Warum sollte man auch in der virtuellen Welt malochen, wenn man in der wirklichen ohnehin seine Ar­beitskraft verkaufen muss? Man kann sich immer noch von einem Ort zum anderen teleportieren lassen und die teilweise wirklich wundersamen Werke der Bewohner von »Second Life« bestaunen. Das Freibad mit der Riesenrutsche sollte man ebenso gesehen haben wie die Parks, die Modeboutiquen oder den Dschungel. Und nie vergessen: Auch einfache Mitglieder können fliegen!

Ich halte mich an Jeena Lovell. Sie ist schon seit längerem eine Bewohnerin von »Second Life«. Es scheint, als habe der Spieler oder die Spielerin für diese Figur den Avatar »Cybergoth Female« genommen. Die Ähnlichkeit mit Marilyn Manson ist nicht von der Hand zu weisen, auch wenn Jeena noch mehr Züge eines Roboters hat. Ich treffe sie auf der Pferdefarm. Sie hält mich zunächst für die Besitzerin. Schnell durch­schaut sie mich aber und sagt: »Du hast dich verirrt, was?« Netterweise will sie mich ein wenig herumführen. In »Second Life« gibt es unzählige Regionen, die meist seltsame Namen tragen wie Unguyo, Machinima oder Limatour. Man weiß nicht, wo man mit seinen Erkundungen anfangen soll. Jeena hat einen guten Überblick und zeigt mir zunächst die Region Octopia. Sie ist recht neu und in einer Ästhetik von Cyberpunk und Science Fiction gehalten. In einer kleinen Einkaufspassage kann man sich nutzlosen Plunder kaufen. Aus den Bars tönt piep­sende elektronische Musik.

Jeena wohnt in Bodega Bay. Die Region liegt am Meer. Jeenas Haus ist nicht allzu weit davon entfernt. Es ist nicht groß. Aber Jeena hat sich so etwas wie einen Flachbildschirm angeschafft. Das ist ein großer Vorteil. Schließlich geht im Januar der erste Fernsehkanal in »Second Life« auf Sendung. Ein Programm aus Mode, Kunst, Musik und Extremsportarten wollen die Verantwortlichen ausstrahlen. Ein Dach über dem Kopf, eine große Glotze, das Meer vor der Tür – so könnte ich es aushalten. Gibt es die Möglichkeit zur Adoption in »Second Life«? Flitzpiep Borons­ki ist zwar ein wirklich schöner Name. Aber Flitzpiep Lovell klingt ja auch nicht schlecht.

Hier geht es ins Parallel­universum: http://secondlife.com.

Grundstück kaufen? ­Warum nicht: http://secondlife.com/whatis/landpricing.php.

Wer einen Job sucht, wird hier fündig: http://lindenlab.com/employment.

Noch unter 18? Dann ab in die Kinderstube von »Second Life«: http://teen.secondlife.com.