Wo Diekmann Kapitän ist

Nichts gegen Orgien, solange kein Bild-Reporter dabei fotografiert. Gerhard Henschels kluge Kritik des größten Boulevardblatts Europas. von thomas blum

Kai Diekmann, der Chefredakteur der Bild-Zeitung, sähe es vermutlich nicht gern, wenn eine auflagenstarke Zeitung heimlich am Strand aufgenommene Nacktfotos von ihm auf der Titelseite abdrucken und in balkendicken Lettern daneben schreiben würde: »PIMMEL-DIEKMANN: SO SCHAMLOS ZEIGT ER SICH AM STRAND«. Die Zeitung, die er leitet, hingegen betreibt derlei als Geschäft. Bevorzugt druckt sie »Reportagen aus den Unterhosen prominenter Zeitgenossen« (Gerhard Henschel) und kann gar nicht genug davon kriegen.

Penisbrüche von Schlagersängern, der Zustand des Jungfernhäutchens eines Vergewaltigungs­opfers oder etwa der Umstand, dass einer Dame das Dekolletee ein wenig verrutscht (»Nippel-Alarm«), das sind Vorkommnisse und Gegenstände, über die die Bild-Zeitung die interessierte Öffentlichkeit aus journalistischer Sorgfaltspflicht unterrichten muss. Und offenbar fühlt sich die deutsche Öffentlichkeit auch gut über das tägliche Weltgeschehen informiert, wenn sie per Lektüre erfährt, dass sich irgendein »Über-Luder« bzw. »Ober-Luder« nicht nur von einer »Kult-Transe« »abschlecken ließ«, sondern obendrein auch »Nackt-Flirts« mit diversen »Schlager-Königen« bzw. »Party-Königen« praktiziert. Daneben finden wir stets das aussagekräftige Beweisfoto, auf dem zu sehen ist, wie die Pranken eines grinsenden Kerls die Brüste einer lachenden Frau umfassen. »Hier packt« Herr Sowieso »an« Frau Sowiesos »Silikon-Brüste«, steht neben dem Foto geschrieben, damit niemandem unter den Leserinnen und Lesern entgeht, welch weltbewegende Dinge sich hier ereignen. Journalismus aufs Wesentliche reduziert, könnte man sagen.

In den vergangenen 15 Jahren ist man dazu übergegangen, Bild als eine Art postmodernes Pop- oder gar »Kultmedium« zu verharmlosen, dem es gelinge, sein Stammtischgestammel mit der stets gleichen Mischung aus zielsicherem Populismus, Gaga-Sprache und pennälerhafter Albernheit (»Rudi, hau die Saudi«) so aufzupeppen, dass der alte Dreck den Glanz des vermeintlich Neuen hatte.

Darüber aber, dass die Bild-Zeitung keine Zeitung im eigentlichen Sinne und auch kein neodadaistisches Kunstwerk ist, sondern vielmehr eine Art öffentliche Bedürfnisanstalt, hat der Schriftsteller Gerhard Henschel, der früher Redakteur des Satiremagazins Titanic war, nun ein lehrreiches und vergnüg­liches Buch geschrieben, in dem dankenswerterweise klargestellt wird, worum es sich bei Bild handelt. Und der Verfasser hat zahlreiche Worte dafür gefunden: Die Zeitung sei eine »Dreckschleuder«, ein »Schweinestall«, das »Leitmedium der Arsch- und Tittenpresse«, eine »dreckige Sexualnachrichtenkaschemme«, die »millionenfache Reproduktion einer beschmierten Toilettenwand«, das »Zentralorgan der Unterhosenspionage«, »Europas führendes Abspritzgarantiejournal«.

Mit dem Zorn des Gerechten und der Enttäuschung des Wertkonservativen, der das Verschwinden des Bildungsbürgertums im fortgeschrittenen Kapitalismus beklagt und sich mit dem dauerhaften Pakt, den die meisten Politiker, Künstler, Unternehmer und »renommierten« (Henschel) religiösen Würdenträger mit dem Tratsch- und Schmutzblatt geschlossen haben, nicht abfinden mag, moniert er in seiner furios geschriebenen Polemik, »dass die höchsten Staatsorgane mit Herrn Diekmann und seinem Redaktionsstab fröhlich zu Tische sitzen«, ohne dass es ihnen dabei offenbar im geringsten unangenehm wäre, es mit Leuten zu tun zu haben, die die Brüste einer Frau als »Hupen« oder »Schaum­glocken« bezeichnen und eine lebendig verbrannte Obdachlose ohne den leisesten Anflug eines Schamgefühls eine »gegrillte Oma« nennen.

Henschel hat Recht, wenn er sich davon angewidert abwendet. Sein Appell an »Men­schen, die auf Sitte und Anstand bedacht sind«, an die deutsche »Kulturnation«, die »Erbverwalter Goethes« und an das deutsche »Kulturvolk«, das Boulevardblatt zu ächten, muss einen jedoch verwundern. Darüber, dass selbst der »Stellvertreter Gottes auf Erden« (Henschel) sich nicht scheut, eine »Kreatur« wie den »Sittenverderber« Kai Diekmann zu empfangen, ereifert sich der Satiriker.

Dabei kommt ja hier im Grunde zusammen, was zusammengehört. Im alles bis ins Letzte verwertenden und zurichtenden Kapitalismus jedoch, in dem das Schöne, Gute und Wahre nach aller Erfahrung einen Scheißdreck wert ist, sollte es einen nicht allzu sehr erstaunen, dass der erzreaktionäre Anführer einer weltumspannenden Sekte (»der Heilige Vater«), der sich dadurch auszeichnet, dass er einen lustigen Hut trägt und gefährlichen Unsinn redet, einen mächtigen Unternehmer empfängt, der sein Geld mit allerlei geschmacklosen Geschäften verdient, sei es nun der Verkauf einer »Volksbibel«, sei es die »tägliche Vermittlung zahlloser ›Bumskontakte‹«.

Die Kritik des sich auf Karl Kraus berufenden Polemikers Henschel – hier gilt es, ihn nicht misszuverstehen – ist dabei nicht etwa eine moralische Kritik an sexueller Libertinage oder dem Verkauf sexueller Dienstleistungen, sondern eine ästhetische: »Nichts gegen Orgien, solange kein Bild-Reporter sie durch eine Reportage darüber entweiht.«

Dass jede Intimität, jede private Verrichtung, jede frische Operationsnarbe und jeder Pinkelstrahl von Bild grell an- bzw. ausgeleuchtet, gewissenlos an eine voyeuristische und sensationsgeile Öffentlichkeit gezerrt und mit Marktgeschrei begleitet (»Penis-Opfer hat wieder einen geilen Hammer«) wird, jeder vermeintlich spektakuläre Todesfall (»Hausfrau erschießt Ehemann beim Strip«) öffentlich »bekichert« wird, ist nicht das einzige, woran sich Henschel stört. Es ist darüber hinaus der »elende Jargon«, den er attackiert und der sich zusammensetzt aus Begriffen wie »Bumskontakte« und »Pipi-Aktion«, während auf der nächsten Zeitungsseite im Kommentar verlogen von christlichen Werten gesülzt wird, mit harter Hand an die bürgerliche Moral gemahnt wird, »Tränen« über »zarte Kinderwangen kullern« und gleichzeitig »die entblößten Brüste einer im Folterknast gequälten Frau« hergezeigt und im Anzeigenteil »Schluckmodelle« beworben werden, die eine »Abspritzgarantie« geben.

Jeder Stil, jeder Wert, jede »Würde«, auf die man sich einstmals habe berufen können und die es einmal gegeben haben mag, all das geht Henschel zufolge zuschanden, betrachtet man den Brei aus Manipulation, Hetze, Heuchelei, Schadenfreude, übler Nachrede, Propaganda, Hurra-Patriotismus und Kitsch, der garniert wird mit dem immergleichen Schmierfilm aus Klatsch, Unterhosenschnüffelei und grobschlächtigem Sex-Gekeife und der hernach den Bild-Lesern täglich als Kost verabreicht wird. »Hier hat Bild zweifellos ›die Meinungs- und Nachrichtenführerschaft‹ inne, nämlich in der Dosenbierpfütze, die uns die Bundeswehrsoldateska am Wochenende im Zugabteil zu hinterlassen pflegt. In dieser zum Himmel stinkenden Pfütze ist Kai Diekmann Kapitän, Mathias Döpfner Großadmiral und Friede Springer Bademeisterin ehrenhalber.«

Gerhard Henschel: Gossenreport. Betriebsgeheimnisse der Bild-Zeitung. Tiamat, Berlin 2006, 191 S., 14 Euro