Karl, der Blogger

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften hat Karl Kraus’ legendäre Zeitschrift Die Fackel komplett digitalisiert und ins Internet gestellt. von jan süselbeck

Endlich kann man jetzt auch im Netz rot sehen. Dort gibt es neuerdings eine Seite, die den Leser mit der Nahaufnahme vieler vergilbter Heftrücken begrüßt: ein anheimelndes Farbspiel in verschiedensten Rouge-Schattierungen.

Die Rede ist nicht etwa von der Web-Präsentation einer Gesamtausgabe der Liebesromane Rosamunde Pilchers. Es geht um das Werk eines Schriftstellers, der »nicht leben konnte, ohne zu hassen«, wie es Marcel Reich-Ranicki einmal in der FAZ formulierte: Im Juni 1936 starb Karl Kraus, einer der größten Schimpfer, Polemiker und Sprachkritiker des 20. Jahrhunderts, in Wien. Er hinterließ 922 blutrote Nummern der von ihm im Alleingang seit 1899 herausgegebenen legendären Zeitschrift Die Fackel.

Über 70 Jahre sind seither vergangen, und damit wurde dieses zum Großteil aus Kraus’ eigener Feder stammende umfangreiche Werk von rund 22 500 Druckseiten »gemeinfrei«. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften nutzte die Gunst der Stunde und hat den epochalen Schritt vollzogen, diese Textmasse komplett ins Internet zu stellen.

Für Insider ist das eine kleine Sensation: Zuletzt redeten sich zum Beispiel auf der von Giesbert Damaschke 1999 ins Leben gerufenen Mailinglist Experten wie der Innsbrucker Literaturprofessor Sigurd Paul Scheichl über das Online-Projekt die Köpfe heiß. Vor lauter juristischen Kontroversen um die digitale Fackel-Ausgabe vergaß man es hier jedoch fast, sich einfach einmal darüber zu freuen, dass es tatsächlich so weit ist: Kraus’ radikale Satiren, seine unermüdliche Kritik der »Journaille«, ja sein von geradezu apokalyptischem Sendungsbewusstsein vorangetriebenes Lebenswerk ist nun online weltweit kostenlos verfügbar.

Zwar mag es mit dem einen oder anderen Browser noch Darstellungsprobleme geben, und mit einem altertümlichen Modem sollte man sich den Datenmassen besser gar nicht erst nähern. Doch mögen notorische Webdesign-Nörgler auch noch dies und jenes an der Seite monieren, so ist ihr schlichter Aufbau doch angenehm benutzerfreundlich. Links sind »Paratexte« anklickbar (ein dort angekündigtes »Vorwort« ist allerdings noch nicht eingestellt worden).

Scrollt man weiter nach rechts, so kann man dort die Fackel sowohl im Faksimile der Originalausgaben als auch im Satz einer modernen Edition nicht nur nachlesen, sondern in ihnen auch noch Volltext-Stichwortsuchen durchführen – also etwa einfach einmal so politisch korrekte Begriffe wie »Idio­ten«, »Dummköpfe« oder auch »Verbrecher« eingeben, um stichprobenweise zu ergründen, wen Kraus denn alles so genannt hat.

Da begegnet man dann, klickt man eine der Fundstellen der letztgenannten Recherche an, als »einem der verderblichsten Verbrecher« einem gewissen »Herrn Bekessy«. Kraus-Leser wissen gleich, wer gemeint ist: Imre Békessy, der skrupellose Herausgeber der Boulevardzeitschrift Die Stunde, den Kraus mit seiner Fackel buchstäblich aus Wien hinaustrieb, nachdem er Opfer einer Lügenkampagne in Békessys Blatt geworden war.

Gerade bei einem so gigantischen Textkorpus wie der Fackel lässt sich kaum fassen, wie groß die Hilfe ist, die ein solches Suchinstrument für kommende Generationen von Rezipienten darstellt. Schon jetzt ist außerdem anzunehmen, dass die Zahl der journalistischen Artikel, die sich mit Kraus-Bonmots schmücken, in absehbarer Zeit rapide ansteigen dürfte. Gerade dies könnte allerdings auch eine rezeptionsgeschichtliche Wende darstellen, die Kraus, dem großen Presse-Hasser, selbst kaum gefallen hätte. Solche Spekulationen sind jedoch genauso müßig wie Eva Menasses Vermutung in der FAZ, wonach jeder Publizist, »der sich heute so unbeugsam, so eigensinnig, so hemmungslos und so kriegerisch verhielte wie Kraus«, als »Spinner betrachtet« würde.

Sicher ist: Kraus ist ein wohl einmaliger Fall in der Literaturgeschichte des vergangenen Jahrhunderts. Einerseits war er für viele zeitgenössische Leser und Schriftsteller eine geradezu unantastbare moralische Instanz, andererseits stellen sich heute viele Aspekte seines wild wütenden Werks umstrittener denn je dar.

Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti jedenfalls wurde nie müde zu betonen, wie wichtig für ihn das Erlebnis der legendären Wiener Lesungen des jüdischen Publizisten war; nicht zu vergessen das zu Teilen in Nummern der Fackel entwickelte Antikriegsdrama »Die letzten Tage der Menschheit«, 1915 bis 1922 als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg geschrieben. »Erwachsen verfiel ich Karl Kraus«, bekannte Canetti in seiner »Dankrede für den Preis der Stadt Wien« (1966), »er wurde zur zweiten Passion meiner frühen Jahre. Von ihm erlernte ich den Mut, mich den Schrecken zu stellen, die das Dasein dieser Menscheit bedrohen, und mein Leben an den Versuch ihrer geistigen Bewältigung zu wenden.« »Karl Kraus tat recht daran, sein Stück ›Die letzten Tage der Menschheit‹ zu nennen«, brachte Theodor W. Adorno diese endzeitliche Aktualität des Meisterwerks in seinen »Minima Moralia« (1950) auf den Punkt, um in Anspielung auf Auschwitz hinzuzufügen: »Was heute geschieht, müsste ›Nach Weltuntergang‹ heißen.«

Auch Sigmund Freud, der mit seinem kurzen Aufsatz »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« 1915 einen ebenfalls kriegskritischen und zunächst sogar nur zensiert in der expressionistischen Zeitschrift Das Forum erschienenen Text schrieb, umwarb Kraus als begeisterter Fackel-Leser bereits seit 1904, als er einen ersten persönlichen Leserbrief an den wortmächtigen Autor sandte. Bekanntlich wurde Kraus, der Freud zunächst nicht einmal unbedingt feindlich gesonnen war, später zu einem der verbissensten Kritiker der Psycho­analyse. Ihr widmete er nun auch online nachlesbare Sätze wie den, diese Wissenschaft sei »jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält«.

Nutzer der Online-Ausgabe der Fackel haben jetzt also Gelegenheit, die genauere Entwicklung der ambivalenten (redaktionellen) Beziehung zu Freud genauer nachzulesen und selbst weiter zu erforschen. Auch die dunklen Seiten der Geschichte der Zeitschrift sind hier zu besichtigen. Ob es nun »jüdischer Selbsthass« war oder ob Kraus’ Furor »pathologische Züge« trug, fest steht, dass der Wiener Journalist seine unerbittlichen Karikaturen und Spotttexte oft gegen Juden richtete und damit antisemitischen Ressentiments Vorschub leistete. Auch wenn man nicht unbedingt so weit gehen muss wie Reich-Ranicki, der Kraus in der FAZ nachsagte, dieser habe erst spät, »als Hitler in Deutschland an der Macht war«, erkannt, »wozu auch er sein Scherflein beigetragen hatte«.

Bereits Adorno bemerkte: »Je emphatischer (…) die Kraussche Prosa ihren Humanismus als invariant setzt, um so mehr nimmt sie restaurative Züge an.« Bei aller Kritik an der »Kulturindustrie« hätte Adorno sich möglicherweise sogar über die Online-Ausgabe der Fackel gefreut. Schließlich ist der Phrasensumpf im Internet besonders tief.

http://corpus1.aac.ac.at/fackel