Die Heimat wird zurückgekauft

Vertriebenenverbände versuchen nach Kräften, politisch Einfluss auf Orte in den ehemaligen »Ostgebieten« zu nehmen. Wie das geht, beschreibt jörg kronauer am Beispiel der polnischen Kleinstadt Gizycko

Erhard Kawlath lässt sich nicht lumpen. 18 Weih­nachtsstollen, fünf Pfund Kaffee, haufenweise Lebkuchenpackungen, einen Sack Stofftiere, Schuhe, 1 200 Einwegspritzen und Kleiderspenden nimmt er mit auf den Weg. Auch das eine oder andere Geldgeschenk befindet sich in dem VW-Bus, mit dem der 81jährige kurz vor Jahresende seine norddeutsche Heimatstadt Neumünster verlässt. Nach Gizycko fährt er, wie schon mehrmals zuvor in diesem Jahr. Die Kleinstadt liegt im nordöstlichen Winkel Polens, kurz vor Kaliningrad, nicht weit von der Grenze zu Litauen. Ganz in der Nähe ist Kawlath geboren und aufgewachsen, damals, als Gizycko noch »Lötzen« hieß und in Ostpreußen lag, einer Frontprovinz des Deutschen Reichs.

Seit Jahrzehnten ist Kawlath in der so genannten Kreisgemeinschaft Lötzen aktiv, einer von 40 Untergliederungen der Landsmannschaft Ostpreußen, die den 40 Kreisverwaltungen der untergegangenen Reichsprovinz nachgebildet sind. Die Landsmannschaft nennt sie »Gebietskörperschaften im Exil«. In ihnen sind die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner der ostpreußischen Kreise organisiert, die am Ende des Kriegs flohen oder umgesiedelt wurden. Kawlath ist seit 1992 Chef seiner Kreisgemeinschaft und damit gleichsam Exillandrat des verblichenen preußischen Landkreises Lötzen. Der existiert zwar nur noch in den Köpfen der Landsmannschafter. Dennoch verbindet jemand wie Kawlath seinen Auftritt in Gizycko mit dem Anspruch, die dortigen Verhältnisse zumindest mitgestalten zu dürfen.

In Gizycko steuert er meist den örtlichen Deutschen Sozial-Kulturellen Verein an, den Insider einfach den »Deutschen Verein« nennen. Für dessen Weihnachtsfeier hat Kawlath die Lebkuchen eingepackt, für dessen Mitglieder sind auch die Geldgeschenke bestimmt. All das wird im polnischen Nordosten, der ärmsten Gegend des Landes, gern entgegengenommen. Im Deutschen Verein sind die deutschsprachigen Bewohnerinnen und Bewohner des Kreises Gizycko organisiert, die 1945 von der Umsiedlung ausgenommen wurden und die polnische Staatsbürgerschaft erhielten. Auch ihren Nachkommen steht der Deutsche Verein offen. Die Organisation erfreut sich ansehnlicher staatlicher Fürsorge aus Deutschland. Sie hat ihren Sitz in einem recht repräsentativen Gebäude, dem ehemaligen Finanzamt. Die teure Renovierung der Räumlichkeiten finanzierten zwei deutsche Bundesländer.

Besonders zahlreich sind die im Landkreis Gizycko verbliebenen Deutschsprachigen nicht. Nur knapp über 120 Gäste holen sich auf der Weihnachtsfeier des Deutschen Vereins Kawlaths Geschenke ab; insgesamt 30 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählt heute allein die Kreisstadt. Hier, wie auch sonst in Nordostpolen, wurde recht konsequent umgesiedelt. Bleiben durfte nur, wer nicht mit den Nazis kollaboriert hatte. Das waren im Kreis Lötzen sehr wenige. Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933, als die NSDAP im Schnitt 43,9 Prozent der Stimmen erhielt, kam sie in Ostpreußen auf 56,5 Prozent, in Lötzen sogar auf 72,5 Prozent. Weitere zehn Prozent gingen an die DNVP-Liste »Kampffront Schwarz-Weiß-Rot«. »Ein neues Gemeinschaftsgefühl vereinigte zu dieser Zeit die Einwohner unseres Ortes«, berichtet ein ehemaliger Bewohner einer Bauernsiedlung bei Gizycko verklärt vom Aufbau der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft ab 1933.

Dass der Deutschtumswahn im Kreis Lötzen solche Erfolge feiern konnte, war das Ergebnis gezielter Politik. Noch 100 Jahre zuvor hatten rund 86 Prozent der Kreisbevölkerung Masurisch, einen polnischen Dialekt, als Muttersprache genannt. Ihre Vorfahren waren zu einem bedeutenden Teil evangelische Konfessionsflüchtlinge aus dem katholischen Polen. Die brachiale Germanisierung jedoch, die Preußen und dann das Deutsche Reich im Frontgebiet zu Russland vorantrieben, zeigte Wirkung. Die masurische Sprache verschwand immer mehr, ein antislawischer Affekt herrschte vor. Als die Bevölkerung des Kreises Lötzen nach dem Ersten Weltkrieg abstimmen durfte, ob sie sich Deutschland oder Polen anschließen wolle, entfielen nur neun von 30 000 Stimmen auf die polnische Republik.

»Pflichterfüllung, Treue und Einsatz für das Vaterland fielen uns nicht schwer, weil wir in Preußen mit diesen Tugenden aufgewachsen waren«, resümierte der Chronist Heinz Lalla in den achtziger Jahren das Lebensgefühl im Kreis Lötzen während der Zeit des NS. Lalla, wie Kawlath 1925 geboren, wuchs im Bauerndorf Paprodtken südlich der Kreisstadt auf. Er schilderte bewegt die Euphorie, die der Nationalsozialismus in der Gegend hervorrief. »Die neue Agrarpolitik beabsichtigte die Sicherung des Bauerntums und die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion«, berichtete er wohlwollend, »die Einführung eines Pflichtlandjahres für die Mädchen aus allen Bevölkerungsschichten brachte junge Menschen auf das Land, die bald eine große Hilfe für Haus und Hof wurden.« Nichts Negatives fällt Lalla zu den dreißiger Jahren ein. Die schlimme Zeit, das geht aus seinen Darstellungen hervor, begann für ihn erst 1945, als die Rote Armee Ostpreußen Stück für Stück befreite. Dies kam bei den Lötzenern offenbar gar nicht gut an. »Wer wurde hier wohl befreit … «, schimpft der Autor eines Bildbandes über Gizycko und Umgebung, den die Kreisgemeinschaft Lötzen 1994 veröffentlichte.

Diese hatte bald nach Kriegsende im Westen zusammengefunden. Ein Foto aus dem Jahr 1954 zeigt Johann Karlisch, ab 1941 Bürgermeister in Paprodtken, zufrieden inmitten seiner exilierten Landsleute. »Goldenseer beim Ostpreußentreffen 1954 in Bochum«, ist das Bild untertitelt. Goldensee? Paprodtken, der ursprüngliche Name der Siedlung, klang den Naziführern nicht deutsch genug und wurde daher im Juli 1938 durch »Goldensee« ersetzt. Die Umgesiedelten verwenden die Bezeichnung der Nationalsozialisten bis heute.

Einige der Lötzener Amtsträger aus NS-Zeiten übernahmen nach dem Krieg Posten in den Organisationen der Umgesiedelten. Einer von ihnen war Alfred Gille, von 1928 bis 1942 Bürgermeister von Lötzen, dann als Besatzungsverwalter in der Ukraine tätig. Vor 1945 war er zeitweise Führungsmitglied des NSDAP-Gaues Ostpreußen und wurde nach dem Krieg einer der führenden Politiker der Vertriebenen. 1950 gehörte er zu den Gründern der Partei »Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten«, von 1952 bis 1966 amtierte er als Bundessprecher der Landsmannschaft Ostpreußen. 1968 erhielt er für seine Arbeit das Verdienstkreuz 1. Klasse des Bundes.

Erhard Kawlath, den der Krieg in seinem 18. Lebensjahr aus dem Kreis Lötzen auf ein Minensuchboot verpflanzte, hat keine vergleichbare Karriere gemacht, aber den bislang größten Erfolg für die Kreisgemeinschaft erzielt. Am 1. Juni 2000 unterzeichnete er gemeinsam mit dem Bürgermeister von Gizycko eine Partnerschaftsurkunde. Darin verpflichtet sich die Stadt Gizycko, die Kreisgemeinschaft Lötzen regelmäßig zu »konsultieren« und »die Zusammenarbeit in kommunalen Aufgabenbereichen« zu suchen. Sie erklärt sich ausdrücklich dazu bereit, »Fördermaßnahmen zugunsten der Angehörigen der deutschen Minderheit zu ermöglichen und zu erleichtern«. Das nützt vor allem dem Deutschen Verein. Zudem gewährt das Abkommen den Umgesiedelten Einfluss in sozialen und kulturellen Belangen. Diejenigen, die im Jahr 1945 wegen ihrer Nähe zum NS-Regime Lötzen verlassen mussten, haben somit das vertraglich zugesicherte Recht, die Verhältnisse in ihrem Herkunftsort wieder mitzugestalten. Die »Gebietskörperschaft im Exil« hat in Gizycko ihre Arbeit aufgenommen. Gemeinsam mit dem Deutschen Verein stärkt sie die deutsche Präsenz an Ort und Stelle.

Ohne umfangreiche Unterstützung wäre das den Umgesiedelten nie gelungen. Schon bald nach dem Krieg verschafften ihnen staatliche Stellen eine solide organisatorische Anbindung. Im Jahr 1954 übernahm die Stadt Neumünster die Patenschaft für die Kreisgemeinschaft Lötzen. Infrastrukturelle und finanzielle Hilfen waren ihr damit sicher. Der Einstieg in Gizycko gelang über die Johanniter-Unfall-Hilfe, die im November 1995 in der Kleinstadt eine Sozialstation eröffnete. Die Kreisgemeinschaft war sofort mit von der Partie. »Dass sich die Deutschen gerade für diese besonders bedürftigen Menschen einsetzen, hat deutlich zu ihrem guten Ansehen in Lötzen beigetragen«, berichten die Johanniter auf ihrer Website. »Auf anderen Gebieten wäre dies in gleicher Weise sicher nicht so gelungen«, urteilt Erhard Kawlath. Die 1 200 Einwegspritzen in seinem Gepäck sind für die Sozialstation bestimmt.

Dem Sozialen folgte sogleich die Kultur. Seit drei Jahren veranstalten die Landsmannschaft Ostpreußen und der Deutsche Verein aus Gizycko große Sommerfeiern in der dortigen Festung Boyen, wo gemeinsam das Ostpreußenlied gesungen wird. Das bedeutet eine doppelte Provokation. Denn in der Verteidigungsanlage waren von 1941 bis 1944 Divisionstruppen der NS-Militärspionage unter Führung des späteren Präsidenten des BND, Reinhard Gehlen, stationiert. Die Festung Boyen war damit eine Außenstelle der nahe gelegenen »Wolfsschanze«, des Führerhauptquartiers.

Warum wehrt sich in Polen kaum jemand gegen die Zumutungen der Umgesiedelten? »Der Tourismus ist wirtschaftlich unsere einzige Hoffnung«, sagt der Pensionswirt Marek Czechowski* und umfährt langsam die Schlaglöcher auf dem Feldweg nach Gizycko. »Im Sommer kommen viele Ausländer, die meisten davon aus Deutschland.« In dem Gästezimmer, das er vermietet, stehen zwei Bücher: der Bildband der Kreisgemeinschaft Lötzen und eine Schrift von Heinz Lalla. »Politisch sind beide schlimm«, grummelt Czechowski peinlich berührt. Einer aus der Kreisgemeinschaft hat ihm die Bände mitgebracht, und da immer wieder Umgesiedelte sein Zimmer mieten, hat er sie nicht entfernt. Das Geld aus dem reichen Westen gibt in der ärmsten Gegend Polens immer noch den Ausschlag.

* Name geändert