Koka kauen und wach bleiben

Die bolivianische Oligarchie will die Reformpolitik von Präsident Morales verhindern. Linken Kritikern gehen die Reformen nicht weit genug. von astrid schäfers, la paz

Für die Blockade gibt es »keine Rechtfertigung«, meint Vizepräsident Alvaro Garcia. »Die Pipelines sind die Lebensadern unseres Landes.« Etwa 3 000 Demonstranten besetzten am Freitag eine Gaspumpstation nahe der Stadt Camiri und erzwangen die Schließung einer Pipeline. Ihnen geht die Verstaatlichung nicht weit genug, sie fordern die Enteignung der von ihnen besetzten Anlagen, die dem Shell-Konzern gehören, und zweier vom staatlichen brasilianischen Konzern Petrobras betriebenen Ölraffinerien.

Die Verstaatlichung des Energiesektors war eine der populärsten Maßnahmen der Regierung von Präsident Evo Morales. In einer fast fünfstündigen Rede zum ersten Jahrestag seiner Amtsübernahme zählte Morales am 23. Januar diesen und andere Erfolge seiner Regierung auf und erläuterte seine zukünftigen Reformpläne. Nach einiger Zeit schliefen zahlreiche Abgeordnete seiner Partei ein. Der Präsident ermunterte sie, Kokablätter zu kauen, um wach zu bleiben.

Dass Morales kein sonderlich mitreißender Redner ist, gehört jedoch zu den kleinsten seiner Probleme. Die Zustimmung für ihn liegt bei 54 Prozent, ist also ebenso groß wie bei seiner Wahl. Noch immer hoffen die benachteiligten Bevölkerungsgruppen auf eine Verbesserung ihrer sozialen Lage und ein Ende der Diskriminierung durch die weiße Oligarchie. Doch bei einem Teil seiner Anhängerschaft hat Morales an Rückhalt verloren, während die Oligarchie und rechtsextreme Gruppen seine Reformpolitik auch mit Gewalt bekämpfen.

Zu den gewalttätigsten Konflikten kam es in der östlichen Provinz Santa Cruz, in der die Unión Juvenil Cruceñista, die Jugendorganisation des rechts­ex­tremen Comité Cívico, Büros von Abgeordneten der Regierungspartei Mas (Bewegung zum Sozialismus) und Indígenas angriff. Die rechten Organisationen vertreten vor allem die Interessen der Großgrundbesitzer, die öffentlich die Aufstellung bewaffneter Milizen angekündigt haben. Rassistische Bewegungen wie die Nación Camba fordern: »Vaterland Camba oder Tod«.

Das »Vaterland« will ihnen Morales nicht geben, er hofft jedoch, eine bewaffnete Konfrontation vermeiden zu können. Am 23. Januar rief er einmal mehr zur Zusammenarbeit auf: »Wir sind verschieden, und Vielfältigkeit schafft Differenzen. Diese Differenzen müssen von der Verfassunggebenden Versammlung debattiert werden.«

Die Nación Camba kritisiert jedoch das »Monopol fundamentalistischer Indígenas« in der Verfassunggebenden Versammlung. Doch nicht nur rassistische Organisationen der Oligarchie, denen die bloße Präsenz von Indígenas in den zuvor von ihnen beherrschten Institutionen ein Gräuel ist, sind unzufrieden mit dem Gremium. Die Regierung will mit einer neuen Verfassung ein »neues Bolivien« schaffen. Um das durchsetzen zu können, will der Mas die Verfassung mit einfacher Mehrheit statt mit einer Zweidrittelmehrheit verabschieden können.

Nicht nur die rechte Opposition hält das für eine autoritäre Politik. »Wenn du mich fragst, was ich von Evo Morales denke, so kann ich sagen, dass er einige positive Reformen veranlasst, die er versprochen hat. Aber er macht andere Dinge, die nicht vorgesehen waren und mit denen ich nicht einverstanden bin«, sagte Humberto Porto Carreiro, Lehrer an einer Grundschule in La Paz. Er hält den vom Mas befürworteten Abstimmungsmodus für gefährlich: »Da der Mas die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung hat, ermöglicht eine solche Änderung es der Partei, die Verfassung so zu gestalten, wie es ihr in den Kram passt.« Der Streit über den Abstimmungsmodus beschäftigt zudem die Verfassunggebende Versammlung seit ihrer Konstituierung im August vergangenen Jahres. Über inhaltliche Fragen wurde noch nicht diskutiert.

Morales will den Parteien der Oligarchie nicht gestatten, seine Politik zu blockieren, andererseits aber soll der Rahmen der Legalität gewahrt bleiben. Das wiederum führt zu Kon­flik­ten mit radikaleren Gruppen in den sozialen Bewegungen, die ein härteres Vorgehen gegen die Oligarchie fordern. In Cochabamba, wo sich die Kämpfe ebenfalls zugespitzt haben, unterstützen einige Gewerkschaften von Kokabauern die Assambleia Popular (Volksversammlung), die versucht, den oppositionellen Gouverneur Manfred Reyes Villa zum Rücktritt zu zwingen, und eine Parallelregierung einsetzen will.

So weit will Morales, der seine Karriere als Repräsentant der Kokabauern begann, nicht gehen. Er lehnt eine Parallelregierung in Cocha­bam­ba ab. Alfredo Rada, der Minister für Kommunikation mit sozialen Gruppen, bezeichnete die Assambleia Popular als linksradikale Versammlung, die nicht die sozialen Bewegungen von Cochabamba repräsentiere.

Die Krise eskalierte, als Villa ankündigte, ein Referendum durchzuführen, um die Autonomie der Provinz zu erzwingen. Bereits im Juli vergangenen Jahres hatte es ein solches Referendum gegeben, bei dem die Mehrheit der Bevölkerung die Autonomie abgelehnt hatte. Nach heftigen Protesten, bei denen es zwei Tote und mehrere Verletze gab, floh Villa nach Santa Cruz. Auch in La Paz versuchten soziale Bewegungen, den oppositionellen Gouverneur José Luis Paredes zum Rücktritt zu zwingen.

Linke Kritiker werfen der Regierung auch vor, ihre Reformpolitik sei zu inkonsequent. An der sozialen Situation hat sich wenig geändert, immer noch lebt mehr als die Hälfte der rund neun Millionen Bolivianer unterhalb der Armutsgrenze.

Morales hat versprochen, 3,2 Millionen Hek­tar Land an Kleinbauern zu übergeben. Bislang aber war die Landverteilung eher ein symbolischer Akt. Die Opposition hatte das Gesetz über die Agrarreform lange verhindert. Im November konnte es dann doch verabschiedet werden, nachdem drei oppositionelle Senatoren überraschend zugestimmt hatten. Viele vermuten, dass sie vom Mas bestochen wurden. Vorgesehen ist eine Enteigung unrechtmäßig erworbenen und nicht genutzten Landes. Das genügt, um die Großgrundbesitzer gegen die Regierung aufzubringen, beraubt sie jedoch nicht ihrer ökonomischen Macht.

Auch die Verstaatlichungspolitik führte nicht zu Enteignungen. Die Erdgas fördernden Unternehmen wurden dazu verpflichtet, Steuern in Höhe von 82 Prozent auf ihren Gewinn zu zahlen. Diese Maßnahme wurde aber noch nicht durchgesetzt, die Verhandlungen mit den Konzernen dauern an.

Zuständig für Gespräche mit transnationalen Unternehmen ist Manuel Morales Oliveira. Die Ernennung des Politologen, der über wenig Erfahrung im Bereich der Energiewirtschaft verfügt, war umstritten. Oliveira wurde in mehreren Fällen angeklagt, u.a. wegen Begünstigung seines Vaters, der ebenfalls Mitglied des Mas ist, beim Erwerb von Ölfeldern. Die Untersuchungen wurden jedoch eingestellt, in einem Fall verfügte Morales dies per Dekret.

Soziale und politische Konflikte hingegen lassen sich nicht per Dekret beenden. Die beiden Präsidenten, die vor Morales regierten wurden durch soziale Proteste gestürzt. Morales verdankt sein Amt der Unterstützung der sozialen Bewegungen, und er muss sich diese Unterstützung durch weitere Reformen erhalten. Das aber führt fast zwangsläufig zu härteren Konflikten mit der Oligarchie, die nicht bereit ist, ein »neues Bolivien« zu akzeptieren.