Die Magyaren erwachen

In Ungarn rufen »revolutionäre Patrioten« zum »nationalen Widerstand« am Nationalfeiertag auf. Der Ministerpräsident warnt vor dem grassierendem Antisemitismus und überlegt, den Feierlichkeiten fernzubleiben. von magdalena marsovszky

So etwas gab es in der Geschichte Ungarns noch nie: Jüdische Bürger wurden in den vergangenen Tagen zu ihrer eigenen Sicherheit aufgefordert, am Nationalfeiertag, dem 15. März, nicht auf die Straße zu gehen. »Wenn jemand nicht ständig damit konfrontiert werden will, dass die Juden für alles herhalten müssen, wenn jemand nicht mas­senhaft Árpádfahnen begegnen und sich die verschiedenen Slogans anhören will, dann soll er zu Hause bleiben«, sagte etwa der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Ungarns, Peter Feldmajer, in einem Interview im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Dass der Antisemitismus zunimmt, bestätigte auch der ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány in einem Gespräch mit der Times. »Hier geht etwas Schreckliches vor sich«, sagte er und kündigte an, möglicherweise wolle er den Feierlichkeiten fernbleiben.

Seit dem vergangenen Herbst, als rechtsradikale Horden »im Namen des Volkes« etliche Autos anzündeten, das Fernsehgebäude stürmten und den Kossuth-Platz vor dem Parlament wochenlang belagerten (Jungle World 39/06), wird von vielen Beteiligten erwartet, dass die Straßenschlachten im Frühjahr fortgesetzt werden. Die in den vergangenen Jahren zahlreich entstandenen nationalen NGO und »Heimat­schutzvereine« rufen unentwegt zur »nationalen Selbst­verteidigung« auf und wollen die aus Sozialisten und Liberalen bestehende Regierungskoalition »aus dem Amt jagen«. Bei ihren Demonstrationen oder Straßen­blockaden sind sie nicht nur wegen der vielen ungarischen Fahnen erkennbar, sondern auch wegen der rot-weiß gestreiften Árpádfahnen, der Flaggen der ungarischen Faschisten, die in den vergangenen Jahren eine massenhafte Verbreitung erfahren haben.

Ins Leben gerufen wurde diese nationale Bewegung im Mai 2002 vom damaligen Wahlverlierer, dem heutigen Oppositionsführer und Vorsitzenden der nationalkonservativen Fidesz (Bürgerliche Union), Viktor Orbán. Seitdem wird mit einer landesweiten Kampagne das »Erwecken des Bewusstseins für das Magyarentum« propagiert. Vom öffent­lich-rechtlichen Kossuth-Rádió bis hin zu kleinen Internetportalen hört und liest man ohne Unterlass, dass »magyarenfeindliche Kräfte« die Gesellschaft atomisieren wollten, weshalb es an der Zeit sei, endlich Stellung zu beziehen: »Auf zum 15. März! Volksgenossen, Magyaren! Wie lange lassen wir noch zu, dass uns die Liberalkommunisten ausbeuten? Erwacht, Magyaren, jetzt oder nie! Am 15. März werden die Massen Budapest stürmen. Durchhalten, und der Sieg ist unser!« heißt es etwa im Newsletter einer rechtsradikalen Gruppierung namens Nemzeti Hirhalo.

Die Nationalfeiertage, vor allem der 23. Oktober, der Jahrestag der Revolution von 1956, und der 15. März, an dem der niedergeschlagenen ungarischen Revolution von 1848 gedacht wird, sind durch ihre mythisierte Überhöhung besonders geeignet, »die Nation zu verteidigen« oder »im Namen der Nation zu handeln«. Diese Tage werden seit dem Ende des Realsozialismus von den Nationalkonservativen immer wieder tagespolitisch instrumentalisiert. Ihre Botschaft lautet: Wir sind das Volk und die Nation, die anderen sind die »heimat‑« und »identitätslosen« Fremden im eigenen Land, die keine Heimatliebe empfinden und nur ihren eigenen Interessen folgen.

Doch wer sind die »Feinde«, gegen die die Heimat und die Nation angeblich verteidigt werden müssen, und wie kommt dabei der Antisemitismus ins Spiel? Hierbei muss vor allem klargestellt werden, dass Antisemitismus nicht einfach Feindschaft gegen Menschen mit jüdischer Iden­tität bedeutet. »Der Jude« ist das Feindbild, das im Kopf der Antisemiten entsteht, da es keinen einzigen realen Juden gibt, auf den die Menge der antisemitischen Stereo­type passen würde. Sowohl aus der Psycho­analyse als auch aus der Antisemitismusforschung ist bekannt, dass der Hass dem Fremden gegenüber projizierter Selbsthass ist, der durch Ängste ausgelöst wird. So wird der Böse vor allem im Kollektivbild des »Juden« gesehen. Hauptfeinde sind der (»jüdische«) Liberalismus, der (»jüdisch«-) bolschewistische Kommunismus, der (»jü­dische«) Kapitalismus und auch die (»jüdi­sche«) Sozialdemokratie. Diese Projektion ist zudem auf jeden abstrakten Begriff übertragbar, der als feindlich empfunden wird, so beispiels­weise auch auf die Globalisierung, die USA und auch auf die EU.

An den nationalen Feiertagen werden also die ethnisch-kulturelle Homogenität und die Nation, wie in einer säkularisierten Religion, heraufbeschworen. In den Vorstellungen der Nationalkonservativen werden jedoch »Nation«, »Volk« und »das Magyarentum« ausschließlich von der »na­tionalen Seite« verkörpert. Sie erscheint als das Gute überhaupt. Diese Auffassung von Volk und Nation führt zwangsweise zur Entstehung eines Gegenbildes, den Feinden schlechthin im Kollektivbild »des Juden«, der als gefährliches Element, existenzielle Bedrohung und das Böse dämonisiert wird. Diese aus der christlichen Tradition stammende Dichotomisierung der Welt in »gut« und »böse«, in »eigen« und »fremd« ist eine typische Erscheinungsform des Antisemitismus und hat sogar eine eschatologische Pespektive: die Erlösung. Nur wenn der »Böse« aus der Welt vertrieben wird, werden die Probleme gelöst.

Dass das, was in Ungarn geschieht, Antisemi­tismus par exellence ist, dürfte vielen nicht be­wusst sein. Gegen den Vorwurf des Antisemi­tis­mus wehrt man sich dementsprechend ent­schie­den: »Es gibt keinen Antisemitismus, nur Antimagyarismus«, heißt es. Und dahinter steckten die Liberalen und die Sozialisten. In der Tageszeitung Magyar Nemzet, die der Fidesz nahe steht, war am Montag vergangener Woche der entlarvende Satz zu lesen: »Selbst wenn Ferenc Gyurcsány seine jüdische Frau verlässt, brauchen wir ihn als Ministerpräsidenten nicht.«

»Wer a Jud’ ist, bestimm’ i!« sagte der Wiener Bürgermeister Karl Lueger Anfang des 20. Jahrhunderts, und so funktioniert es auch heute. Für Antisemiten ist es überhaupt nicht entscheidend, ob das Objekt des Hasses selbst eine jüdische Identität hat oder nicht. Der antisemitische Teil der Gesellschaft bezeichnet die Menschen, Gruppen, Regierungen usw., die er für »Juden« hält. Demnach werden beide Parteien der ungarischen Regierung, die Sozialdemokraten und die Liberalen, als »jüdisch« und damit als »böse« bestimmt, an deren Spitze Ferenc Gyurcsány die Rolle des »Juden« und des »Feindes« vom Dienst erfüllt.