Gnade muss nicht sein

Christian Klar bekennt sich zum Reformismus. Doch das genügt nicht. von jörn schulz

Dass politische Debatten in Deutschland häufig die Form eines Inquisitionsverfahrens annehmen, hat Christian Klar wohl nicht bedacht, als er sich im Januar entschloss, eine Grußadresse an die »Rosa-Luxemburg-Konferenz« zu schicken. Was sollte schon passieren? Bei der Konferenz werden keine Bomben gebastelt, sie wird auch von der DGB-Jugend unterstützt, manche Teilnehmer werden vielleicht bald Minister sein oder zumindest Staatssekretäre.

Für gewöhnlich werden Grußadressen, in denen Menschen sich einander mit ein paar Allgemeinplätzen ihre gegenseitige Verbundenheit versichern, ohnehin keiner akribischen Textanalyse unterzogen. Wer das in Klars Fall dennoch für nötig hält, müsste eigentlich feststellen, dass der Häftling sich zur So­zial­demokratie bekennt.

Die Inspiration, die Klar aus Lateinamerika empfängt, kann derzeit nicht von kommunistischen Guerillagruppen kommen, sondern nur von Reformisten wie Hugo Chávez und Evo Morales, die »nach zwei Jahrzehnten sozial vernichtender Rezepte« nun »endlich den Rechten der Massen wieder Geltung« verschaffen. Er wünscht nicht die Beseitigung des Kapitalismus oder gar der Kapitalisten, sondern die »Niederlage der Pläne des Kapitals zu vollenden«. Sein Wunsch, dass »die zukünftigen Neugeborenen in ein Leben treten können, das die volle Förderung aller ihrer menschlichen Potenziale bereithalten kann«, ist nicht radikaler als das Godesberger Programm der SPD, in dem es heißt: »Die Sozialisten erstreben eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten« kann.

Der Sinneswandel ist um so bemerkenswerter, als die Sozialdemokratie immer der Hauptfeind der RAF war. »Die antiimperalistische Linke hätte es mit Strauß leichter«, seufzten die Stadtguerilleros 1971, da »die reformistische Linie im Sinn von langfristiger Stabilisierung kapitalistischer Herrschaft die effektivere Linie ist«, während der besonders reaktionäre CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß ein besseres Feindbild abgegeben hätte. Auch der Unterschied zwischen Klars sanftem Reformismus und RAF-Parolen wie »die antiimperialistische front in der brd jetzt – das sind militärische angriffe, einheitliche koordinierte militante projekte« ist unschwer erkennbar.

Manche Interpreten schaffen es dennoch, einen Zusammenhang zum bewaffneten Kampf zu konstruieren. »In der vermummten Grammatik steckt eine unverhüllte Logik«, schreibt Thomas Assheuer in der Zeit. »Wer ›vernichtende Rezepte‹ anwendet, ja selbst wer dem Kapital ›propagandistisch‹ vorarbeitet, ist vor der Geschichte schuldig geworden – und muss offenbar kaltgestellt werden.« Wolfgang Kraushaar vernimmt den »Sound, der in den achtziger Jahren nach den Mordanschlägen auf Beckurts, von Braunmühl und Herrhausen zu hören war«, und der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) meint: »Die Aggressivität seiner Sprache zeigt, dass Klar ein ideologisch völlig verbohrter Terrorist ist.«

Es mag dahingestellt bleiben, ob hinter solchen frei herbeihallu­zi­nierten Interpretationen ideo­lo­gische Verblendung oder demagogische Absicht steckt. Jedenfalls sind, genau wie im Jahr 1977, nur sehr wenige bereit, sich bei der Interpretation unbotmäßiger Texte auf deren Inhalt und nicht auf die angeblichen Absichten des Autors zu konzentrieren.

Im »Deutschen Herbst«, der bereits im Frühjahr begann, traf der Bannstrahl der Inquisition einen Göttinger Linksradikalen, der nach dem Attentat auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback seine »klammheimliche Freude nicht verhehlen« wollte. Sein im April 1977 unter dem Pseudonym »Mescalero« veröffentlichter Nachruf setzt sich jedoch kritisch mit linken Gewaltfantasien auseinander und kommt zu dem Schluss: »Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: zur Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.«

Dennoch wurde der Text als Aufruf zum bewaffneten Kampf interpretiert und jeder Versuch, ihn zu publizieren, strafrechtlich verfolgt. Als 47 Professoren ihn dokumentierten, belehrte sie der niedersächsische Innenminister Eduard Pestel (CDU) über die »besondere Treuepflicht« des Beamten. Diese »fordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegen­über Staat und Verfassung«.

Fünf Jahre zuvor hatte der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) erläutert: »Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Kritik aus demokratischer Verantwortung und Herabsetzung und Zersetzung mit dem Ziel, die Funktionsunfähigkeit des Staates herbeizuführen.« Die sozialliberale Regierung wollte »mehr Demokratie wagen«. Eine bezeichnende Formulierung: Demokratische Rechte zu gewähren, galt als Wagnis, folglich muss­ten Vorkehrungen für den Fall getroffen werden, dass sie »missbraucht« werden.

Dafür war nicht zuletzt Horst Herold zuständig, der damalige Präsident des Bundes­kriminalamtes. Jahrzehnte bevor der Film »Minority Report« gedreht wur­de, entwickelte er das Konzept der präventiven Kriminalitätsbekämpfung. Die Polizei sollte Verbrechen verhindern, bevor sie begangen werden konnten. Dass Menschen darüber nachdachten, eine Straftat zu begehen, konnte niemand verhindern. Sobald sie miteinander kommunizierten, konnten Polizei und Justiz jedoch überwachend und strafend eingreifen.

Einen nationalen Konsens zu erzwingen, der sich nicht in der Ablehnung des bewaffneten Kampfes erschöpft, politische Gefangene in Isolationshaft zu halten und »zersetzende« Kritik strafrechtlich zu verfolgen, lag in der Logik dieses Denkens. Bei einer Umfrage im Jahr 1972 gaben immerhin 15 Prozent an, sie würden eventuell ein RAF-Mitglied vor der Polizei verstecken, sechs Prozent bezeichneten sich sogar ausdrücklich als potenzielle Helfer der RAF. Dennoch war Herold sich des Sieges über die Stadtguerilla sicher: »Wir kriegen sie alle.«

Es ging nicht nur um eine Gruppe, der nie mehr als 30 Bewaffnete angehörten. 1977 hatten die maoistischen Parteien rund 30 000 Mitglieder, zahlreicher noch waren die linksradikalen »Spontis«. Die Funk­tionsfähigkeit des Staates gefährdete das zwar nicht, doch es galt ja, vorbeugend zu handeln.

Geht es auch bei den Reaktionen auf Klars Grußadresse um Prävention? Lohnkürzungen, Massenentlassungen und Sozial­abbau könnten eine größere Motivation zur Entführung von Arbeitgeberpräsidenten sein als die vergleichsweise paradiesischen Verhältnisse in den siebziger Jahren. Doch der Gipfel der Militanz ist schon erreicht, wenn jemand die Schlösser beim Arbeitsamt zuklebt. Ein Relaunch der Stadtguerilla ist schon deshalb nicht möglich, weil deren ehemalige Mitglieder nach vielen Jahren der Isolationshaft gar nicht in der Lage wären, das anstrengende Leben im Untergrund durchzuhalten. Und auch der nicht militante linke Protest ist derzeit keine ernsthafte Herausforderung.

Doch der Sicherheits- und Wettbewerbsstaat des 21. Jahrunderts kann sich nicht mit passiver Akzeptanz zufrieden geben. Die besondere Treue, die nicht mehr nur den Beamten abverlangt wird, muss durch »Eigeninitiative« unter Beweis gestellt werden. Während der Fußballweltmeisterschaft galt eine innerlich distanzierte Haltung gegenüber Deutschland als verdächtig. Im Betrieb genügt es nicht mehr, einfach nur zu schuften, jeder ist aufgefordert, seine Arbeitsleistung laufend zu verbessern.

Die Bejahung des Kapitalismus ist da eine Selbstverständlichkeit. Im »Deutschen Herbst« konnte auch ein CDU-Minister schwerlich die SPD kriminalisieren, die das Godesberger Programm erst 1989 ersetzte. Nun aber ist es für den FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle selbstverständlich, dass selbst eine so dezente Kapitalismuskritik wie die von Klar verfassungswidrig ist: »Wer Gnade vor Recht erbittet, aber unsere Grundordnung nicht anerkennt, hat keine Gnade verdient.« Edmund Stoiber sieht in der Grußadresse einen Aufruf »zum Kampf gegen die deutsche Gesellschaft«.

Noch sieht die »Grundordnung«, die übrigens immer seltener mit dem früher üblichen Zusatz »freiheitlich-demokratisch« in einem Atem­zug genannt wird, ein Verbot der Kapitalismuskritik nicht vor. Die EU-Verfassung aber wird die »unternehmerische Freiheit« zum Menschenrecht erheben. Das bedeutet vorläufig nicht, dass neue Hochsicherheitstrakte für Attac-Mitglieder gebaut werden, und Klar hätte wohl wesentlich weniger Probleme bekommen, wenn er sich auf die hierzulande weiterhin gesellschaftsfähige Kritik am anglo-amerikanischen Heuschrecken-Kapitalismus und am Kriegstreiber Bush beschränkt hätte. Deutlich wird jedoch das Bestreben, noch restriktiver zu definieren, was »Kritik aus demokratischer Verantwortung« ist.

In der staatlichen Politik gegenüber der RAF ging es immer darum klarzustellen, dass niemand sich ungestraft gegen Staat und Kapital erhebt. Andererseits schien es manchmal sinnvoll, sich durch humanitäre Gesten als »zivile Weltmacht« zu präsentieren. Es ist kein Zufall, dass gerade am Anfang der neunziger Jahre, als es galt, das misstrauische Ausland von der Harmlosigkeit des wiedervereinigten Deutschland zu überzeugen, Justizminister Klaus Kinkel (FDP) über Hafterleichterungen und vorzeitige Entlassungen verhandelte.

Derartige Gesten sind nicht mehr nötig, es darf exemplarische Härte demonstriert werden. Bevor eine humanitäre Geste in Erwägung gezogen werden kann, sind Gegenleistungen fällig, wenigstens ein Reuebekenntnis und ein Treuebekennntnis. Denn ein »Staatsfeind«, meint Philipp Mißfelder, der Vorsitzende der Jungen Union, hat »keine Gnade verdient«. Dass diese Form der Vergebung, ein Relikt der vorbürgerlichen Epoche, sich aus dem Gottesgnadentum des Herrschers ableitet und daher, wie der Apostel Paulus lehrt, »nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit« gewährt wird, sollte ein christlicher Politiker eigentlich wissen. Doch im Wettbewerbsstaat darf nichts mehr verschenkt werden.

Bei einer Umfrage im Fe­bruar sprachen sich 58 Prozent der Deutschen gegen eine vorzeitige Haftentlassung von Christian Klar aus. Wie Mißfelder ertragen es viele nicht, wenn ein anderer etwas umsonst bekommt, und sei es nur den Zugang zu dem, was man ein Leben in Freiheit nennt.

Wenn ein Gefangener aus der RAF im Jahr 1977 eine solche Grußadresse verschickt und aus der Zelle heraus über seinen zukünftigen Arbeitsplatz verhandelt hätte, wäre das als sensationeller Resozialisierungserfolg gefeiert worden. Seitdem sind die Anpassungsanforderungen, nicht nur für politische Gefangene, immens gewachsen, und es wird immer leichter, ein Staatsfeind zu sein. »Ein kluges Wort, und schon bist du Kommunist«, sagte man in den siebziger Jahren. Mittlerweile ist nicht einmal das mehr nötig.