Mindestens Lohn

Die Chancen, dass ein Mindestlohn eingeführt wird, stehen schlecht. Vor allem die CDU-Ministerpräsidenten im Osten sind dagegen. von winfried rust

Haare schneiden, bis der Arzt kommt. So stellen sich die Arbeitsbedingungen für eine Friseurin aus Sachsen dar, wenn sie nach einer Stunde 3,05 Euro verdient hat. Deshalb heißt es Überstunden machen, aber am Monatsende reicht das Geld trotzdem nicht. Und wenn es schon für den normalen Alltag kaum reicht, kann bereits eine Zahnbehandlung oder eine Autoreparatur in die Schuldenfalle führen.

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung schätzt, dass über sechs Millionen Menschen in Deutschland derzeit für Niedriglöhne arbeiten, wenn man von der geläufigen Annahme ausgeht, dass diese unter 75 Prozent des Durchschnittseinkommens liegen. Etwa 2,5 Millionen Menschen arbeiten für so genannte Armutslöhne, also für weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns von 1 442 Euro. Tarifverträge mit Stundenlöhnen von vier bis sechs Euro gibt es etwa im Gaststättengewerbe, bei Wachdiensten, im Bäcker- und Konditorenhandwerk. Und viele Beschäftigte erhalten nicht einmal den Tariflohn.

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sind rund 570 000 Beschäftigte auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen. Darunter befinden sich derzeit 470 000 auf Vollzeitstellen – gegenüber 287 000 im Jahr 2005. Fest steht, so resümiert auch das WSI, dass der Niedrig­lohnsektor sich ausbreitet und verfestigt.

Dieser Bereich war lange Zeit der einzige mit einem Zuwachs an Arbeitsplätzen. Vor allem Liberale und Konservative nahmen die sinkenden Löhne hin und favorisierten ihre staatliche Aufstockung durch das Kombilohnmodell. Die Konsequenz der Regierungspolitik der vergangenen Jahre, auch bereits unter der rot-grünen Regierung, war die Absenkung des Lebensstandards von Arbeitslosen durch das geringe Arbeitslosengeld II. Die niederen Löhne zogen nach. Ein-Euro-Jobs beförderten die Deregulierung der Beschäftigungsverhältnissen.

Inzwischen haben aber auch manche Parteien entdeckt, dass Niedriglöhne Armut erzeugen. Die SPD kritisiert einträchtig mit der Linkspartei und den Grünen »sittenwidrige« Löhne und fordert stattdessen »anständige«. Der Mindestlohn sei die einzige Möglichkeit, diesem Missstand abzuhelfen.

Aber die Befürworter des Mindestlohns üben sich in Bescheidenheit. Die Gewerkschaften plädieren für einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro. Dabei handelt es sich um einen Bruttolohn. Bei einer Vollzeitbeschäftigung wären das knapp 1 300 Euro brutto monatlich. Nach dem Abzug des Arbeitnehmeranteils für die Sozialversicherung, der rund 20 Prozent des Bruttoverdienstes beträgt, liegt man bei der Pfändungsfreigrenze.

»Es ist ein Skandal, wenn Menschen, die hart und Vollzeit arbeiten, von ihrer Arbeit nicht mehr leben können«, sagt der Generalsekretär der SPD, Hubertus Heil. Aber ist es in Ordnung, wenn man von der Sozialhilfe nicht leben kann? In der Debatte um Mindestlöhne trifft die Ideologie des freien Markts auf den Arbeitsfetischismus mit dem Motto: »Gutes Geld für gute Arbeit«.

Die Sozialdemokraten bevorzugen branchenspezifische Mindestlöhne. Als Kompromiss, dem auch die CDU zustimmen könnte, gilt ein Gesetz zum Verbot sittenwidriger Löhne. Gerade der unternehmerfreundliche Teil der CDU/CSU könnte sich mit dieser Maßnahme aus der Bredouille ziehen, lehnt er doch staatliche Einmischung in die Löhne der Privatwirtschaft ab, gerät aber durch die populäre Kampagne gegen Niedriglöhne unter Druck. Denn die Forderung nach einem Mindestlohn hat in der Bevölkerung breiten Rückhalt bis in das konservative Lager hinein gefunden. Nach dem ZDF-Politbarometer befürworten 70 Prozent einen Mindestlohn, der sich am niedrigsten Tariflohn je Branche orientiert.

So streiten die CDU-Mittelstandsvereinigung, deren Vorsitzendem Josef Schlarmann sogar ein Gesetz zum Verbot sittenwidriger Löhne als »verdeckter Mindestlohn« zu weit geht, und Anhänger der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, die mit den Vorschlägen der SPD sympathisieren. Ronald Pofalla, der Generalsekretär der CDU, schlägt einen »flexiblen Mindestlohn« vor. Aber er versichert: »Einen gesetzlichen, einheitlichen Mindestlohn in ganz Deutschland wird es mit uns nicht geben, weil er Hunderttausende von Arbeitsplätzen vernichten würde.«

Der Arbeitsmarktexperte der Unionsfraktion im Bundestag, Ralf Brauksiepe (CDU), plädiert für eine Verknüpfung der Einführung von Mindestlöhnen mit der Einschränkung des Kündigungsschutzes. Die Ministerpräsidenten von Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt sprechen sich prinzipiell gegen Mindestlöhne aus. Diese würden die wenigen arbeitsmarktpolitischen Vorteile zerstören, die der Osten noch habe. Der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) sagte dem Spiegel zufolge in der vorigen Woche auf einem Treffen der christdemokratischen Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Der Mindestlohn ist wie ein Ölfleck. Ist er erst einmal da, breitet er sich immer weiter aus.« Dabei sind die beschäftigten in Ostdeutschland von den Armutslöhnen am stärksten betroffen. Bei der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 7,50 Euro müsste der Lohn von jedem fünften Beschäftigten in Ostdeutschland angehoben werden.

Der Einfachheit halber aber wenden sich Liberale und Konservative lieber gegen die Arbeitslosen. Mit dem Arbeitslosengeld II würden sich viele Menschen bequem einrichten und sich daher weigern, einen Armutsjob anzunehmen, heißt es. Schlarmann schließt sich in der Diskussion um Mindestlöhne Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) an, fordert eine »Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger« und lobt den Niedriglohnsektor, weil er »Arbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt wieder integriert«. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentiert, es sei »gut, dass jetzt endlich ernsthaft über Modelle diskutiert wird, die die staatlichen Zuwendungen an eine Arbeitspflicht knüpfen oder den Umbau von Lohnersatz- in Lohnzusatzleistungen einläuten«. Diese entsprächen dem »ostdeutschen Interesse«, ganz im Gegensatz zu der »Einführung eines beschäftigungshemmenden Mindestlohns«.

Die Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre zielte darauf, dass das untere Drittel der Beschäftigten die schlecht bezahlten Jobs übernimmt: an der Kasse den Einkauf eintüten oder der Mittelstandfamilie die Geschirrspülmaschine ausräumen. Hauptsache, es wird angepackt! Der Mindestlohn wird die Verbilligung der Arbeitskraft nicht stoppen, sondern nur geringfügig abmildern können. Die niedrigen Tariflöhne und deren Unterbietung belegen vor allem die Schwäche der Gewerkschaften. Es läge zuerst an ihnen und nicht am Gesetzgeber, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Ein Gesetz zum Mindestlohn bedeutete außerdem noch nicht, dass er in der Praxis auch gezahlt wird. Tarife werden nicht von selbst eingehalten. Die Beschäftigten können in die Scheinselbständigkeit, zu unbezahlter Mehr­arbeit oder Schwarzarbeit gedrängt werden. Denkbar ist es auch, dass der Mindestlohn dazu verleitet, die Löhne auf sein Niveau zu senken. Entscheidend bleibt nach wie vor die Auseinandersetzung der Lohnabhängigen mit den Unternehmern.