»Die Gangs sind unorganisiert«

Marcelo Freixo

Marcelo Freixo, ehemaliger Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Justiça Global und Abgeordneter der linken, vom regierenden PT abgespaltenen Partei P-SOL im Landtag von Rio de Janeiro, kritisiert die brasilianische Drogenpolitik.

In der brasilianischen Presse heißt es, dass die Gangs in den Favelas den Drogenhandel kontrollieren. Sie bestreiten das. Wer kontrolliert denn Ihrer Meinung nach dieses Geschäft?

Der Drogenhandel ist eines der lukra­tivs­ten Geschäfte der Welt. Der Gewinn, den dieses Geschäft bringt, bleibt nicht in den Händen der Mitglieder des Terceiro Comando, Comando Vermelho oder Amigos dos Amigos (rivalisierende Drogenbanden in Rio de Janeiro, Anm. d. Red.). Dieses Geschäft ist mit Sicherheit mit Finanzspekulationen, Börsen- und Immobiliengeschäften verbunden. Von diesen Wirtschaftsbereichen verstehen die Gangs in den Favelas gar nichts.

Eine effiziente Sicherheitspolitik sollte sich eher auf die Gewinne aus dem Drogen­geschäft konzentrieren. Mit Sicherheit wür­den viele Richter, viele Parlamentsmitglie­der und andere Repräsentanten des Staats auffliegen, die an diesen Geschäften teilnehmen.

Welche Funktion haben denn die Drogengangs wie das Comando Vermelho für die Großhändler, die sie beliefern?

Sie sind die unterste Stufe, sie machen die Drecksarbeit im Drogenhandel. Sie stützen sich auf eine lokale Macht in den Vierteln, wo sie ihre Drogen verkaufen. Die Mitglieder dieser Gangs werden immer jünger. Die meisten dieser in der Regel männlichen Jugendlichen werden zu Verbrechern, um sozialen Status zu erlangen. Sie wollen ein bisschen Geld, mo­dische Kleidung, Macht über die anderen in der Favela, mit ihren Waffen vor den Mädchen angeben. Die Jugendlichen, die Drogen im Kleinsthandel verkaufen, sind komplett unorganisiert, sie sind das Gegenteil von »organisiertem Verbrechen«, wie die Medien es nennen.

Hat die wachsende Armut in Brasiliens Großstädten den Drogenhandel und die Gewalt gefördert?

Die neoliberale Wirtschaftspolitik der neunziger Jahren hat in Brasilien dazu geführt, dass ein großer Teil der Bevölkerung einfach ausgegrenzt wurde. Ein großer Prozentsatz der Bevölkerung hat keine Funktion in einer Marktwirtschaft. Er gehört nicht einmal zur kapitalistischen Reservearmee.

Der brasilianische Staat interessiert sich ausschließlich dafür, diese Bevölkerungsteile zu kontrollieren. Der Diskurs vom »Krieg gegen die Drogen« legitimiert ein immer brutaleres Vorgehen der Polizei. Die Polizei von Rio de Janeiro tötet pro Kopf mehr Menschen jedes Jahr als jede andere Polizei der Welt, für die derartige Statistiken geführt werden.

Präsident Luis Inácio Lula da Silva hat im vergangenen Jahr ein Gesetz unterschrie­ben, das den Konsum von Drogen nicht mehr unter Strafe stellt. Würde die Legalisierung von Drogen die Menschenrechtssituation in Brasilien verbessern?

Etwa 100 Personen sterben jedes Jahr in Rio de Janeiro an einer Überdosis. Dagegen sterben jedes Jahr 8 000 Menschen durch Feuerwaffen, was ein Resultat des illegalen Drogenhandels ist. Das zeigt, dass unsere Drogenpolitik völlig falsch ist.

Das neue Gesetz verbessert die Situation für die Konsumenten, sie werden in Zukunft besser von der Polizei behandelt. Das halte ich für richtig. Allerdings ist das zu wenig, nur der Konsum wird nicht mehr bestraft. Es wäre ein gewaltiger Fortschritt für Brasilien, wenn es eine größere Diskussion über die komplette Legalisierung weicher Drogen gäbe.

interview: thilo f. papacek