1., 2., 3. Mai

Seit 20 Jahren brennt in Berlin am 1. Mai die Luft, und nicht nur sie. Die Geschichte der Kreuzberger Krawalle ist auch die Geschichte der Autonomen. von ivo bozic
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Gedenkstätten zeichnen sich in der Regel zumindest durch eine Hinweistafel oder ein Denkmal aus. Im Fall der Gedenkstätte für die Riots vom 1. Mai 1987 war es aber nur eine Freifläche, eine Baulücke im Herzen Kreuzbergs, eine fehlende Häuserecke am Görlitzer Bahnhof, darauf Reste einer Ruine. Dort stand bis zu jenem ersten warmen Tag des Jahres 1987 ein Bolle-Supermarkt, der im Zuge der Krawalle zunächst geplündert und dann angezündet wurde. Eine Neubebauung des Geländes war lange Zeit nicht denkbar; sie wäre von der autonomen Szene in Kreuzberg sicherlich als Angriff auf die historische Authentizität des Kiezes gewertet worden. Heute steht dort eine fast fertig gestellte riesige Moschee. Sie muss nicht fürchten, Opfer von Plünderung und Zündelei zu werden am kommenden 1. Mai, und das nicht nur, weil es dort mit Sicherheit keine Schnapsflaschen einzustecken gibt. Die Verteidigung eines von McDonald’s freien multikulturellen Bezirks SO 36 in Kreuzberg ist ein konstituierendes Moment der Berliner autonomen Bewegung.

Tugendwächter gab es allerdings auch 1987 schon. Autonome zertrümmerten im Bolle-Markt die Alkoholbestände, damit die Plünderungen nicht in ein großes Besäufnis ausarteten. Der Kiezmiliz ging es darum, die mit den rasch steigenden Promillewerten schwindende Kampfkraft der Kreuzberger zu erhalten, und der fröhlich-spontanen Randale einen politischen Gestus zu verpassen.

Doch nur in einer verklärenden Perspektive war der »Revolutionäre 1. Mai in Kreuzberg«, wie das Spektakel nun seit 19 Jahren genannt wird, eine durchgängig autonome Veranstaltung. Bereits beim so gesehen ersten 1. Mai 1987 ging die recht unkon­trollierte Straßengewalt vor allem von »ganz normalen Anwohnern« des damals sozial völlig abgehängten Kiezes aus, darunter viele Migranten und Jugendliche, denen revolutionäre Parolen, die Arbeiterbewegung und die damals in der Linken virulente Debatte um die Volkszählung völlig schnuppe waren. In den vergangenen Jahren war es nicht viel anders. Für die Politiksimulation zeichneten die diversen Demonstrationen verantwortlich, der Krawall entstand aus der Menge an Action orientierter Migrantenkids. Miteinander zu tun hatten die beiden Phänomene nur ganz peripher.

Der weltweit bekannt gewordene Riot von 1987 begann damit, dass einige Autonome einen Streifenwagen der Polizei in der Nähe des traditionellen Straßenfestes umkippten. Daraufhin beendete die Polizei unter Schlagstock- und Tränengaseinsatz das gesamte Fest. So begannen die Auseinandersetzungen, in deren Verlauf sich die Polizei zeitweise vollständig aus dem Krawallgebiet zurückziehen musste. Nicht nur Bolle musste dran glauben. Über 30 Geschäfte wurden geplündert, der U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof wurde so sehr beschädigt, dass er wochenlang gesperrt blieb.

Angesichts dieser auch für die Autonomen völlig überraschenden Ausmaße der Straßenschlacht organisierte die Szene im darauf folgenden Jahr erstmals eine vom DGB unabhängige »Revolutionäre 1.-Mai-Demo« in Kreuzberg. Mit Ausnahme der Jahre 1994 und 1995 fand sie daraufhin jährlich statt, mit der Aufsplitterung der Szene wurden es immer mehr Demos, zeitweilige nahmen bis zu 20 000 Menschen daran teil. Der 1. Mai in Kreuzberg wurde für Linksradikale in ganz Deutschland zu einem Orientierungspunkt, bis heute gibt es einen regelrechten Eventtourismus. Zumindest zu kleineren Krawallen kam es immer, wobei die Gewalteskalationen mehr­heitlich nicht im direkten Zusammenhang mit den meist friedlich verlaufenden Demos standen.

Gewalt gab es jedoch auch innerhalb der Szene. 1992 und 1993 eskalierten die Auseinandersetzungen mit der maoistisch-stalinistischen Splittergruppe Rim/Revolutionäre Kommunisten, der die antiautoritären Gruppen untersagen wollten, Stalin-Fahnen und einen eigenen Laut­sprecherwagen mitzuführen. Daraufhin prügelten sich die äußerst gewalttätigen Maoisten mit Holzlatten in den Demonstrationszug und wurden anschließend von der Polizei unter vereinzeltem Beifall der Autonomen aus der Demo entfernt. Angesichts dieser Dramatik fand im Jahr 1994 keine autonome Mai-Demo statt, nur die Rim, die seitdem eine eigenständige Demonstration veranstaltet, zog vom Oranienplatz in Kreuzberg mit ein paar hundert Leuten zum Brandenburger Tor. Auch 1995 verzichteten die Autonomen auf eine Demons­tration.

Dies ist jedoch keineswegs die unrühmlichste Episode aus der Autonomen-Geschichte in Berlin. Immerhin war der Kon­flikt ein politischer und führte zur eindeutigen Abgrenzung der undogmatischen Be­wegungsautonomen von autoritären Mao­isten. Jener Gewaltausbruch war wohl die politischste Auseinandersetzung, die der 1. Mai in Berlin je erlebte, und im Vergleich zu den allseits bekannten Szenarien, bei denen 30 Leute wie bekloppt auf eine Bushaltestelle eindreschen, geradezu der Höhepunkt der inhaltlichen Profilierung aller 1.-Mai-Revolutionäre. Diesen Zenit hat man in den vergangenen Jahren allerdings so konsequent überschritten, dass heutzutage Autonome und Rim-Stalinos sogar wieder gemeinsame Demo-Bündnisse bilden.

Die Autonomen konnten mit diesem Kon­flikt, der für manche wohl auch einer mit dem eigenen politischen Selbstverständnis war, nicht umgehen. Es waren postautonome Antifagruppen, vor allem die inzwischen aufgelöste AAB, die 1996 nach der Schreckstarre der vorigen beiden Jahre das Heft am 1. Mai in die Hand nahmen und es tatsächlich schafften, nicht nur ein Ritual wieder zu beleben, sondern ihm ein neues poppiges Flair und auch eine undogmatische Ausrichtung zu geben. Allerdings war es auch die postauto­nome AAB, die damit begann, ML-Gruppen wieder in die Demo einzubinden, und damit die erreich­te politische Profilierung zugunsten ihres Massenansatzes aufgab.

Der nächste Bruch stand allerdings schon bald ins Haus. 2003 kam es nach der Spaltung der AAB zur einzigen 1.-Mai-Demo, auf der massenhaft Israel­-Flaggen gezeigt wurden und an der vor allem antideutsche Gruppen teilnahmen. Seit dem vorigen Jahr gibt es auch noch eine so genannte Mayday-Parade, die jenseits von revolutionärem Gestus vor allem aktuelle soziale Konflikte thematisiert und eine internationale Vernetzung anstrebt. Einige Antifa-Gruppen und Autonome paktieren mitt­lerweile wieder ungestört mit Maoisten und Antiimperialisten, andere, das »Ums-Ganze-Bündnis« um die Gruppe TOP Berlin, haben den 1. Mai für tot erklärt und rufen zu einem Bruch mit allen Ritualen auf – und demonstrieren deshalb am 30. April abends für den Kommunismus. Die Zukunft gehört dann den Anti-1.-Mai-Demos – jährlich am 1. Mai, 18 Uhr, O-Platz. Die anschließende Straßenschlacht wird garantiert.