Nennt mich Ismael Ax

Der Massenmord in Virginia von jörn schulz

Die Virginia Tech gehört nicht zu den weltberühmten US-Universitäten, doch sie ist renommiert genug, um fast drei Viertel der Bewerber zurückweisen zu können. Die Gebühren liegen zwischen 7 000 und 20 000 Dollar pro Jahr, wer hier ohne ein Stipendium studieren kann, muss wohlhabende Eltern haben. Für den Sohn einer Familie, die 1992 aus einem Armenviertel Seouls in die USA mi­grier­te, ist das ein beachtlicher sozialer Aufstieg.

Bemerkenswerter als die ritualisierte Debatte über die Waffengesetze und mögliche Versäumnisse der Universitätsleitung ist das, worüber nach dem Massaker in Blacksburg nicht gesprochen wird. Die Biographie Cho Seung-Huis steht geradezu beispielhaft für den »ame­rikanischen Traum«. Und seine dem Fernsehsender NBC zugeschickte Botschaft deutet darauf hin, dass der Mord an 32 Menschen die Tat eines Puritaners war, der das Glück anderer Menschen nicht ertragen konnte.

Viele christlich-konservative Kommentatoren identifizierten »Ismael Ax«, den Namen, den Cho sich auf den Arm geschrieben hatte, umgehend als islamisch und rückten ihn in die Nähe des Jihadismus. Doch Cho bezieht sich offensichtlich auf den Ismael der Bibel, den verstoßenen Sohn Abrahams: »Er wird ein wilder Mensch sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn.« Möglicherweise dachte Cho, der Englisch ­studierte, auch an Herman Melvilles »Moby Dick«, einen Roman über Besessenheit mit starkem Bezug auf das Christentum, dessen Ich-Erzähler sich Ismael nennt.

Chos kurze Predigt gegen »Ausschweifung« und »Hedonismus« könnte jeder fundamentalistische Geistliche gehalten haben, ein Satz aber stellt einen eindeutigen Bezug zum Chris­tentum her: »Ich sterbe wie Jesus, um Generationen der Schwachen und Wehrlosen zu ­inspirieren.« Serienkiller und Massenmörder sind fast immer bekennende Egozentriker, Cho dagegen empfand seine Tat als Martyrium im Dienste anderer Menschen. Das ist ein christliches Motiv.

Zwar ist die christliche Tradition des Mär­tyrertums eher die des passiven Erduldens, doch der Gedanke, durch die Beseitigung der Gottlosen die Welt zu reinigen, ist dem Christentum nicht fremd. Im vergangenen Jahr brachten rechte Christen in den USA das Video­spiel »Left Behind: Eternal Forces« auf den Markt, bei dem Gotteskrieger auf den Straßen New Yorks gegen die Streitkräfte des Antichrist, die Global Community Peacekeepers, kämpfen. Etwa 20 Prozent der US-Amerikaner glauben, dass das Armageddon, die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse, zu ihren Lebzeiten stattfinden wird.

Dass Chos persönliches Armageddon durch Ideen motiviert wurde, die denen einer bedeutenden Strömung in der US-Gesellschaft recht ähnlich sind, wird verdrängt. In Trauerritualen grenzt sich die Gesellschaft von der als unbegreiflich bezeichneten Gewalt ab, der Täter wird für geisteskrank erklärt. Doch eine Depression, wie sie 2005 bei Cho diagnostiziert wurde, ist kein Indikator für erhöhte Gewaltbereitschaft. Zum Glück, denn bei etwa 15 Prozent der US-Studenten werden depressive Symptome festgestellt.

Die Diskriminierung psychisch Kranker wird nun wohl wieder wachsen, schon nach den derzeit geltenden Regeln können sie von der Universität relegiert werden. Für die Verhinderung ähnlicher Verbrechen wäre es hilfreicher zu diskutieren, welche Rolle reale und mediale Gewalt, Sexualneurosen und Puritanismus in der Gesellschaft spielen. Und warum es nicht als anstößig gilt, in epischer Breite alle Details eines Massenmords zu erörtern, aber ein Piepen ertönen muss, wenn Cho in seinem Video »fuck« sagt.