Gefühltes Gas

Der Mythos von der Vernichtungshaft. Wie sich die RAF an die Stelle der ermordeten Juden setzte und das Land der Überlebenden zum faschistischen Staat erklärte. von uli krug
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War die RAF eigentlich eine antifaschistische Organisation? Allein schon wegen des innewohnenden Zweifels wäre diese Frage vor Jahren in linken Kreisen noch als gegenstandslos und unsinnig zurückgewiesen worden. Hatte die RAF denn nicht für die Aufnahme des »bewaffneten Kampfes« 1970 gerade explizit den »faschistischen Charakter der BRD« angeführt? Hatte die RAF nicht die Geiselnahme und spätere »Beendigung der kläglichen und korrupten Existenz« des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer im Zuge ihrer »Offensive ’77« unter anderem damit begründet, dass der ein führender Funktionär der NS-Schreckensherrschaft über das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren war? Wurde nicht auch die braune Vergangenheit führender BRD-Würdenträger immer wieder in RAF-Statements angeprangert?

Das alles ist zwar zutreffend, beantwortet aber die Eingangsfrage keineswegs. Das Faschismus-Verständnis der RAF-Kader nämlich spitzte lediglich die damals in progressiven Kreisen ohnehin übliche NS-Bagatellisierung weiter zu. Die wiederum gründete in der ständigen Gleichsetzung von Holocaust und Atombombe, wie sie beispielsweise Hans Magnus Enzensberger Mitte der sechziger Jahre in Reinkultur vorführte: Hier verschwand die wirkliche deutsche Tat der Judenvernichtung flugs in einem generellen, obendrein hypothetischen Menschheitsfatum, nämlich der Bedrohung durch die damaligen Atommächte, namentlich natürlich durch die USA. So gehe das Spezifische und Partikulare der Tat von Deutschen »in der Sauce des Allgemeinen unter«, kritisierte Hannah Arendt damals hellsichtig.

Die endgültige Bannformel jedoch gegen die Unannehmlichkeiten, die der Nationalsozialismus dem progressiven Weltbild zumutete, erwuchs schließlich aus dem gröblichen Missverständnis einer Sentenz Max Horkheimers, dass nämlich vom Faschismus schweigen solle, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle. Gegen Horkheimers erbitterten Protest wurde daraus die Parole destilliert: »Kapitalismus führt zum Faschismus, Kapitalismus muss weg!« – worauf sich wiederum das historische Wissen der sie skandierenden Demonstranten auch schon beschränkte. »Faschismus« wurde zu einer der austauschbaren Leerformeln, die schon die Sprache des SDS, vor allem aber die der RAF bestimmten: eine Invektive wie »Entfremdung«, »Ausbeutung« oder »Imperialismus«.

War man ohnehin weit entfernt davon, irgend zwischen Nationalsozialismus und Faschismus zu differenzieren, ermöglichte die Sinnentleerung auch des Begriffs Faschismus selbst eine grandiose Selbstermächtigung: nämlich dazu, beliebig zu bestimmen, was oder wer gerade als »Faschismus« oder »Faschist« und damit als das universal Böse zu bezeichnen ist, und nicht weniger: was oder wer als sein Opfer gelten darf. Einen ersten Höhepunkt narzisstischer Vereinnahmung bildete das Schauspiel, wie sich nicht nur die französischen Mai-Demons­tranten, sondern auch deutsche Studentenführer öffentlich als die wahren Juden von heute deklarierten. Noch hemmungsloser, als die meisten Postmodernen es sich später trauten, wurde Geschichte hier neu erfunden: gänzlich nach eigener Willkür und damit zugleich gelenkt von unbewussten und damit unreflektierten Motiven.

Genau diese allgemeine Tendenz spitzte die RAF extrem zu: Sie setzte sich selber sowohl an die Stelle der Verfolgten des Nationalsozialismus als auch an die der Befreier und Rächer. Darin besteht die Bedeutung des Kürzels RAF, das die Nachfolge der sowjetischen Armee beansprucht, aber ungewollt auch die britische Luftwaffe assoziieren lässt. Die Royal Air Force wiederum (sie war ja »kapitalistisch-imperialistisch«) betrachtete Ulrike Meinhof mit denselben Augen wie der Nazi David Irving, den sie 1965 auch prompt als Gewährsmann in ihrer Konkret-Kolumne heranzog: »Als die deutsche Bevölkerung die Wahr­heit über Auschwitz erfuhr, erfuhr die englische Öffentlichkeit die Wahrheit über Dresden. Den Tätern wurde der Ruhm versagt, der ihnen von den Regierenden versprochen worden war. Hier und dort. In Dresden ist der Anti-Hitler-Krieg zu dem entartet, was man zu bekämpfen vorgab: zu Barbarei und Unmenschlichkeit, für die es keine Rechtfertigung gibt.«

Diese Neigung zu einem verqueren Revanchismus gegen die westlichen Siegermächte dominierte auch die späteren RAF-Vorstellungen von einem Rachefeldzug im »Namen der Völker«, ausdrücklich übrigens inklusive des deutschen. Die Bombenkampagne gegen US-Einrichtungen im Mai 1972 (vier Tote, 13 Schwerverletzte) wurde nicht umsonst von einem RAF-Theorie-Pamphlet namens »Dem Volke dienen« als die »neue Generallinie« des »bewaffneten Kampfes gegen den Hauptfeind, die US-Militärpräsenz in der Bundesrepublik und Westberlin«, angekündigt; auch die nachgereichte Kommandoerklärung gefiel sich in einem stramm nationalen Duktus, in dem die Rache für Hanoi von der für Dresden nicht mehr unterschieden und die Bombardierung Hamburgs als ­Auschwitz für die Deutschen hingestellt wurde: »Die Menschen in der Bundesrepublik unterstützen die Sicherheitskräfte bei der Fahndung nach den Bombenattentätern deshalb nicht, weil sie Auschwitz, Dresden und Hamburg nicht vergessen haben, weil sie wissen, dass gegen die Massenmörder von Vietnam Bombenanschläge gerechtfertigt sind.«

Diesem nationalen Jargon blieb die Gruppe treu – was sie allerdings nicht übermäßig negativ heraushob aus der zeitgenössischen Linken, sondern die Marxisten-Leninisten der RAF vielmehr als Vorlagengeber für die abstrusen Antiimp-Pamphlete der achtziger Jahre zeigt. In jener »Erklärung zur Sache«, die Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe 1976 in Stammheim abgaben, heißt es beispielsweise: Die »Klassenkämpfe« in Deutschland spielen sich »zwischen dem Proletariat hier und dem US-Imperialismus« auf der anderen Seite ab; der nämlich habe »Westdeutschland kolonisiert« und sich gegenüber den Deutschen so betragen »wie gegenüber der autochthonen Bevölkerung eines besetzten Landes der 3. Welt«. Die Re-Education und Liberalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg habe auf der »rassistischen Behauptung einer spezifischen, antidemokratischen Charakterstruktur des deutschen Volkes« gefußt und sei nichts weiter gewesen als »der Versuch der Besatzungsmacht, die Identität des unterworfenen Volks zu vernichten, das Bewußtsein seiner historischen Existenz auszulöschen« (Hrvh. U.K.).

Die Anwürfe der RAF-Gründergeneration in diesem, ihrem letzten zur Agitation bestimmten Text gegen die »alten Nazis« an der Spitze der BRD beschränken sich allein noch darauf, dass sie Deutschland den USA ausgeliefert hätten – die RAF hielt den »alten Nazis« allen Ernstes vor, dass sie keine richtigen Nazis mehr wären, sondern Landesverräter.

Die Gleichung Staatsfeind in Deutschland gleich Feind Deutschlands geht also im Fall der RAF nicht auf. Deren Ideologie schlägt eher in die Richtung jener nationalrevolutionären »Systemfeinde«, die es der Bundesrepublik übelnehmen, dass sie sich von ihrem deutschen Erbe entfremdet habe. Der Ex-RAF-Mann Horst Mahler kann für seine spätere Wandlung vom Genossen zum Kameraden durchaus ideologische Konsequenz und Stimmigkeit reklamieren.

Die damalige empathische Hinwendung der RAF-Gründer zu den Deutschen ging wenig überraschend einher mit usurpatorischer Verdrängung der Juden als Nazi-Opfer und ihrer Ersetzung durch die höchsteigene Person. Was bereits in der Studentenbewegung aufgekommen war, wurde zu einer echten Manie der RAF-Gefangenen. Zweifels­ohne gab es Übergriffe auf die Gefangenen in den Knästen und phasenweise äußerst verschärfte Haftbedingungen, andererseits aber nichts weniger als eine systematische »Vernichtungshaft« – in der hätte es kein von Christian Ströbele und anderen aufgebautes und unterhaltenes Infosystem (Gerd Koenen zitiert in dieser Hinsicht die FR v. 30. November 1974) gegeben, keine Zeitungsabonnements, keine nachmittäglichen Treffen der RAF-Gefangenen miteinander und kein Schreibbüro in Mahlers Zelle.

Doch das hinderte weder drinnen noch draußen irgendjemanden daran, zugleich eklige und hysterische Analogien von so genannter weißer Folter etc. zum »Gas« zu fabrizieren. Ensslin im O-Ton: »Unterschied toter Trakt und Isolation: Auschwitz zu Buchenwald.« Und glaube niemand, dass die harten Hungerstreiks der ersten RAF-Generation für Hafterleichterungen geführt worden wären; vielmehr hat man sich zu ihrer Verhinderung totgehungert. Denn, so die RAF-Logik: »Je liberaler die Schweinerei gehandhabt wird – unaufdringlich – locker – nett – hinterhältig – glitschig – gemein, kurz: je psychologischer – desto effektiver, tiefer die Vernichtung der Persönlichkeit des Gefangenen.« So ist das Ziel des Hungerstreiks allein er selbst, also »Kampf, der Kampf erzeugt«.

Je manischer man sich an die Stelle der toten Juden setzen wollte, desto größer wurde zugleich der Hass auf Israel, den Staat der lebenden Juden, dem nicht zufällig das ansonsten eher beliebig eingesetzte »Faschismus«-Etikett dauerhaft angeklebt wurde. Das erschütterndste Dokument dazu hat Ulrike Meinhof hinterlassen, mit ihrer Recht­fertigung des Mord-Überfalls arabischer Terroristen der Organisation »Schwarzer September« auf israelische Olympia-Teilnehmer 1972.

Während die Autorin wähnte, statt im Gefängnis in einer Gaskammer zu sitzen (O-Ton eines Meinhof-Kassibers: »der politische begriff für toten trakt, köln, das sage ich ganz klar, ist das gas. meine auschwitzphantasien da drin waren realistisch«), brachte sie Folgendes zu Papier: Diese Tat sei »gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch. Sie hat eine Sensibilität für historische und politische Zusammenhänge dokumentiert, die immer nur das Volk hat«, das nämlich genau wisse, dass »Israel sein Wiedergutmachungskapital aus Westdeutschland – früher Nazideutschland« gesteckt bekommen habe. Und nun habe »Israels Nazi-Faschismus« seine »Sportler verheizt wie die Nazis die Juden – Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik«, die der »Moshe-Dayan-Faschismus« (Dayan bezeichnet Meinhof im weiteren als »Himmler Israels«) betriebe.

Damit ist denn auch die Eingangsfrage klar negativ beantwortet: Die RAF war ein bewaffneter Vertreter des deutschen Geschichtsrevisionismus, der einen grotesk überflüssigen Bürgerkrieg mit zwar echten Toten, aber gänzlich imaginären Fronten führte. Das nicht einmal im Ansatz bemerken zu können, war wiederum das Resultat einer Abschottung gegen jede Erfahrung – die aber wiederum nicht allein die RAF betraf, sondern letztlich die ganze militante »Neue Linke« samt ihrem dubiosen Antiimperialismus, ihren absurden Organisationsdebatten und ihrem selbstverliebten Militanzgehabe prägte. Die RAF hatte all das nur am konsequentesten durchexerziert und wurde eben deshalb auch in ganz besonderem Maße durch psychodynamische Prozesse gesteuert. Oder in den noch heute schaudern machenden Worten Ulrike Meinhofs: »es gibt nur eine heilung: knarre, bewusstsein und kollektiv.«

Retrospektiv betrachtet scheint der zeitgenössische Hass insbesondere der älteren Deutschen auf die »Baader-Meinhof-Bande« deswegen so besonders groß gewesen zu sein, weil die Unterschiede in der Sache so besonders klein waren. Dieses epochale Missverständnis, das heute einige Medien und Politiker – allerdings auch eher halbherzig – in der Debatte um die Begnadigung von Christian Klar noch einmal zu nutzen versuchen, bedürfte der Aufklärung. Bewies Christian Klar doch erst unlängst, dass er genau dieselbe antiwestliche Pennälerlyrik produziert wie der CSU-Rechtsaußen Peter Gauweiler oder jede stramm pazifistische Kindergärtnerin. Weil das so ist, gibt es keinen Grund, ihn länger im Knast schmoren zu lassen.

Wenn dann das endlose Recyclen des »Deutschen Herbstes« endgültig gegenstandslos wird, dann zeigt sich vielleicht auch deutlicher, wie schauderhaft deutsch die RAF war. Oder anders gesagt: Wie gut sich die größten Geiferer, die einst nach KZ und Todesstrafe riefen, eigentlich mit den verhassten »Terroristen« hätten unterhalten können – über US-Kulturimperialismus, internationales Judentum, alliierten Bombenterror und die nationale Rückbesinnung Deutschlands.