»Das war ein Putsch«

Erlebt die Türkei einen Putsch oder demokratische Proteste? Und wie ist die Konstellation? Nationalisten gegen Demokraten? Oder doch Säkulare gegen Islamisten? Ein Gespräch mit murat belge

Murat Belge ist wohl der bekannteste linke Intellektuelle der Türkei. Nach dem Putsch von 1971 saß er zwei Jahre im Gefängnis, später beteiligte er sich an der Gründung der gesellschaftskritischen Zeitschrift Birikim und des Iletisim-Verlags, der heute zu den renommiertesten des Landes zählt. Im September 2005 gehörte er neben Hrant Dink und zu den Mitorganisatoren der Armenier-Konferenz, kurz darauf wurde er wegen »Verunglimpfung des Staates« angeklagt.

Belge lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft an der privaten Bilgi-Universität in Istanbul und schreibt Kolumnen für die linksliberale Tageszeitung Radikal.

Was geht in der Türkei vonstatten? Ein Putsch mit ziviler Unterstützung oder ein demokratischer Protest, der die Unterstützung des Militärs genießt?

Die Wahrheit liegt dazwischen. Wenn ich mich jedoch entscheiden müsste, würde ich sagen: Das war ein Putsch.

Die Demonstranten befürchten, dass ein Staatsprä­sident aus den Reihen der AKP zu einer Machtkonzentration führen würde, welche die AKP dazu nutzen könnte, die laizistische Ordnung durch eine islamische zu ersetzen. Teilen Sie diese Sorgen?

Allein deshalb, weil es in der AKP, auch in ihrer Führung, noch immer Kräfte gibt, die sich die Sharia herbeisehnen, ist es begrüßenswert, dass sich so viele Menschen gegen eine Islamisierung aussprechen. Allerdings sehe ich eine solche Gefahr nicht gegeben. Die AKP regiert seit fünf Jahren, und in dieser Zeit hat sie nicht das Geringste unternommen, aus dem man schließen könnte, sie arbeite an der Einführung der Sharia. Ich glaube auch nicht, dass dies in der Türkei möglich ist.

Was macht Sie so sicher?

Große Teile der türkischen Gesellschaft haben über Jahrzehnte hinweg einen Lebensstil entwickelt, der mit solchen Vorstellungen nicht zu vereinbaren ist. Für die ländlichen Gegenden, woher der politische Islam in der Türkei ursprünglich stammt, gilt das zwar nur mit Abstrichen, aber über die Geschicke des Landes wird nicht in der Provinz entschieden, sondern in den Großstädten. Und der dortigen Anhängerschaft der AKP geht es vor allem um soziale, politische und kulturelle Teilhabe.

Das vielleicht das wichtigste Projekt der AKP-Führung, über die Grenzen der Türkei hinaus von Bedeutung, zielte darauf ab, den Islam mit der Demo­kratie zu versöhnen. War sie damit erfolgreich?

Es gibt keinen Punkt, an dem man sagen könnte: Jawohl, jetzt ist es geschafft! Und in der Politik der AKP gibt es nach wie vor zahlreiche Dinge, die aus demokratischer Sicht mangelhaft und kritikwürdig sind. Aber wenn man sich vergegenwärtigt, wie die Türkei vor fünf Jahren aussah und woher diese Partei stammt, kommt man nicht umhin festzustellen, dass große Schritte gemacht wurden. Das könnte anderen islamischen Ländern ein Beispiel geben. In einer solchen Situation sehe ich keinen Sinn darin, in ein Geschrei auszubrechen, dass die Sharia vor der Tür stehe – es sei denn, man macht dies aus machtpolitischem Kalkül.

Obwohl die AKP über ein großes Wählerpotenzial verfügt, hat sie es unterlassen, mit Gegenprotesten zu reagieren. Woran könnte das liegen?

Wohlwollend könnte man sagen, dass die AKP sich verantwortungsvoll verhält und auf die Wahlen vertraut. Weniger wohlwollend könnte man sagen, dass dieses Verhalten die Folge einer nüchternen Abwägung der Kräfteverhältnisse ist und sie Angst hat, bei einer solchen Konfrontation zu unterliegen. Dies scheint mir wahrscheinlicher. Allerdings könnte sich diese Strategie ändern, falls es nach den Neuwahlen zu offen putschistischen Aktionen kommen sollte.

Haben die Demonstranten von Istanbul und Ankara jenseits der Sorge um den Laizismus weitere Gründe?

Man muss zwischen den Organisatoren und der Mehrheit der Teilnehmer unterscheiden. Natürlich waren auch bestimmte radikale, aber marginale Kreise beteiligt, nationalistische Europa-Feinde, deren eigentliches Ziel darin besteht, die Türkei von Europa loszulösen. Ohne sie hätte es keine Kundgebung gegeben.

Hinter der Ablehnung der EU wiederum steckt der Wunsch, den Charakter des türkischen Staats als Militärdemokratie zu wah­ren. Aber es wäre falsch zu glauben, dass alle Demonstranten diese Ziele teilen. Die meisten, vor allem die auffällig vielen Frauen unter ihnen, dürften aus Sorge um den Laizismus demonstriert haben.

Entweder heißt es, hier steht die konservative, mehr oder minder religiöse Regierung, dort die aufgeklärten und säkularen Kräfte. Oder es heißt, hier steht eine um demokratische Reformen bemühte Regierung, dort marschiert der Nationalismus. Welche dieser Deutungen ist zutreffend?

Die Wahrheit ist oft komplexer als die Be­griffe, mit denen wir sie zu begreifen ver­suchen. Einerseits können wir diese Massen nicht durchweg als nationalistisch abtun, obwohl diese Kundgebungen erst auf der Grundlage einer nationalistischen Stimmung stattfinden konnten. Andererseits denke ich, dass sich Erdogan und Gül zwar ernsthaft um Reformen und um die Annäherung an Europa bemühen, dass aber längst nicht jeder ihrer Parteigänger begriffen hat, was eine Mitgliedschaft in der EU erfordern würde.

Zu den Paradoxien der türkischen Gesellschaft gehört es, dass wir auf der einen Seite eine Partei haben, die große, man möchte fast sagen: revolutionäre Veränderungen in die Wege geleitet hat, und auf der anderen Seite Leute, die sich selbst als »links« und »fortschrittlich« bezeichnen, die aber gegen diesen Prozess revoltieren und gemeinsame Sache mit den Faschisten machen. Die AKP hat Aufgaben übernommen, die eigentlich Sache der Lin­ken wären – wenn es denn eine Linke gäbe, die diesen Namen verdienen würde.

Hat der Konflikt eine soziale Grundlage?

Man sollte sich davor hüten, zwischen Klassen und Ideologien schematische Beziehungen herzustellen. Gleichwohl vertritt die AKP vor allem die ländliche, kleinbürgerliche Bevölkerung und die Armen, die an den Rändern der Großstädte leben. In diesem Milieu ist sie, nicht zuletzt dank ihres karitativen, aus islamisch-korporatistischen Motiven resultierenden Engagements, an der Basis organisiert; sie ist eine grassroots-Bewegung.

Ihr Gegenüber bildet vor allem das kemalistische Establishment: das Militär, die Bürokratie, die als sozialdemokratisch geltende CHP usw. Wenn die Abdullah Gül zurufen: »Deine Frau trägt ein Kopftuch, die Frau eines Staatspräsidenten kann kein Kopftuch tragen«, meinen sie damit auch: »Was hast du Dahergelaufener in diesem Amt zu suchen?« Das wiederum heißt: »Dieses Amt, dieser Staat gehören uns.«

Im Januar beteiligten sich 100 000 Menschen an der Beerdigung von Hrant Dink. Wie verhält sich diese Manifestation zu den Kundgebungen gegen die AKP?

So manche, die Hrant das letzte Geleit gaben, dürften sich auch an den Aktionen gegen die AKP beteiligt haben. Die Mehrheit aber war sicher nicht dazu bereit, sich hinter den Militärs einzureihen.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Mord an Hrant Dink sowie den Morden an Christen in Malatya und der aktuellen Krise?

Diese Morde waren die fast zwangsläufige Folge einer nationalistischen Welle, die das Land seit einigen Jahren überzieht. Nach dem Mord an dem Priester in Trabzon im vergangenen Jahr und nach dem Mord an Hrant, des­sen Mörder ebenfalls aus dieser Stadt kamen, hieß es überall: Was ist in Trabzon los? Die Wahrheit ist: In Trab­zon ist überhaupt nichts los, jedenfalls nichts, das nicht überall im Land los wäre. Wenn es eines Beweises dafür bedurfte, haben die bestialischen Morde von Malatya ihn erbracht.

Waren die dortigen Täter nicht Islamisten, während es sich bei den Mördern von Hrant Dink um Nationalisten handelte?

Diese Figuren haben keine bestimmte Überzeugung. Sie greifen einfach das Gerede von Vaterland und Religion, von Koran und Nation auf. Es gibt ein beachtliches Potenzial von Mördern, von grassroot-Killern.

interview: deniz yücel