Ein Ritter für alle Fälle

Eine aufschlussreiche Biografie Paul von Lettow-Vorbecks entmystifiziert einen Kriegshelden der Deutschen. von peter bierl

Als sich der Aufstand der Herero in Namibia, der früheren deutschen Kolonie Südwest, 2004 zum 100. Mal jährte, vermied es der damalige Außenminister Joschka Fischer, sich bei den Nachfahren für die Massaker der deutschen Truppen zu entschuldigen, um nur ja kein juristisches Argument für Entschädigungen zu liefern, die von der Bundesregierung stets abgelehnt wurden. Die Deutschen etablierten in Namibia ein Apart­heid-System, das den Buren zum Vorbild diente, und erließen ein Gesetz gegen »Misch­ehen«, um die deutsche »Rassenüberlegenheit« zu sichern. 1905 begann ein Aufstand der Schwarzen in Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, der unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 75 000 und 300 000 Menschen das Leben kostete.

Trotzdem bestritten die Autoren zweier Bücher zum deutschen Kolonialismus, die 2005 erschienen, eine Kontinuität von Kolonialpolitik und Faschismus. Gisela Grainichen und Horst Gründer schreiben in »Deutsche Kolonien, Traum und Trauma«, der Verlagswerbung zufolge die erste populäre Darstellung eines verdrängten Kapitels deutscher Geschichte, über die »Eingeborenenbehandlung« in Togo und haben eine »fortschrittliche Kolonialpolitik« im chinesischen Kiautschou ausgemacht, wofür sie Kanaldeckel anführen, die die Deutschen in der Stadt einbauen ließen. Dass die Kolonialherren auch im Fernen Osten eine Apartheidspolitik verfolgten, versuchen die beiden durch den euphemistischen Begriff »dual city« zu verdecken.

Auch der im linken Unrast-Verlag erschienene Sammelband »Macht und Anteil an der Weltherrschaft« glänzt durch Fehlleistungen. Lothar Günther, früher im diplomatischen Dienst der DDR, lobt die »Indische Legion« und den Politiker Subhas Chandra Bose, der mit Nazideutschland kollaborierte. Bose lebte ab 1941 in Berlin und organisierte die »Indische Legion« mit, die aus britischen Kriegsgefangenen bestand, die sich freiwillig meldeten. Günther erwähnt sogar, dass diese Einheit 1944 in Frankreich gegen die Résistance kämpfte, und bilanziert dennoch: »So nimmt auch Berlin einen nicht unbedeutenden Platz in der Geschichte des antikolonialen Kampfes des indischen Volkes ein.«

Von solchem Schrifttum hebt sich wohltuend die Biografie Paul von Lettow-Vorbecks (1870 bis 1964) ab, die der Osnabrücker Historiker Uwe Schule-Varendorff verfasst hat. General von Lettow-Vorbeck galt den Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg als großer Held, weil sich seine Truppe in Ostafrika gegen die Alliierten hielt und erst am 25. November 1918, zwei Wochen nach dem Waffenstillstand in Europa, kapitulierte. Die Nazis widmeten dem »Löwen von Afrika« Kasernen, Schulen und Straßen im ganzen Reich.

Zwei Kasernen der Bundeswehr und Straßen in 13 Städten tragen bis heute seinen Namen. Dabei wird es vorerst bleiben. Kommunalpolitiker in Wuppertal-Vohwinkel und in der oberbayerischen Kleinstadt Fürstenfeldbruck haben es im vergangenen Jahr abgelehnt, sich von dem Straßenpatron zu distanzieren. Auch die Mehrzahl der Soldaten der Lettow-Vorbeck-Kaserne in Leer in Nieder­sachsen stimmte 2005 für den Namensgeber, den der Historiker Wolfgang Petter vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Potsdam als »Gefühlsmonarchisten« und »Vernunftrepublikaner« verteidigte. Dahinter steckt die Legende vom unbefleckten Schild der deutschen Armee und den zeitlosen soldatischen Tugenden.

Die Blutspur, die Lettow-Vorbeck von China über Afrika bis nach Hamburg und Mecklenburg gezogen hat, zeichnet Schulte-Varendorff exakt nach. 1881 trat der Spross einer pommerschen Adelsfamilie ins Kadettenkorps ein. 1900 meldete sich der junge Oberleutnant freiwillig für den Einsatz in China und hörte in Bremerhaven, wie Kaiser Wilhelm II. die Truppen mit seiner berüchtigten »Hunnenrede« (Pardon wird nicht gegeben) verabschiedete. Ein Jahr später war Lettow-Vorbeck dabei, als in China gefangene Aufständische erschossen wurden. Wiederum als Freiwilliger kämpfte er 1904 in Namibia und begrüßte die Ermordung von Männern, Frauen und Kindern der aufständischen Nama.

Berühmt wurde Lettow-Vorbeck mit dem Durchhaltekrieg in Ostafrika. Die deutschen Truppen unter seinem Kommando haben Schulte-Varendorff zufolge gefangene und verwundete Gegner ermordet, Frauen vergewaltigt, Dörfer geplündert sowie Felder und Vorräte zerstört. Die Deutschen zwangen Tausende von Afrikanern, als Trägersklaven zu schuften, was viele nicht überlebten. Flüchtende Träger und desertierende afrikanische Soldaten ließ Lettow-Vorbeck erschießen, Verdächtige wurden mit Ketten, Halseisen und Telefondraht aneinandergebunden. Auch die Geschichte vom treu sorgenden Kommandeur entlarvt Schulte-Varendorff als Lüge. Die schwarzen Soldaten nannten ihn den »Herrn, der unser Leichentuch schneidert«. Lettow-Vorbecks Chefarzt ordnete an, verwundete schwarze Soldaten nur zu behandeln, wenn fest stand, dass sie der Truppe noch nützen konnten. Insgesamt, so schätzt Schulte-Varendorff, kostete diese »ritterliche« Kriegsführung etwa 700 000 Menschen das Leben.

Seine Heldentaten in Afrika publizierte Lettow-Vorbeck 1919 im Jungborn-Verlag. In dessen Programm fand sich damals neben Werken von Militärführern wie Hindenburg, Ludendorff und Tirpitz auch »Die natürliche Wirtschafts­ordnung«, das Hauptwerk von Silvio Gesell, dem Begründer der »Freiwirtschaftslehre«, dessen Anhänger sich heute bei Attac tummeln und Regionalgeld-Initiativen organisieren. Im Jungborn-Verlag erschien die Zeitschrift Neues Leben, von Ernst Hunkel herausgegeben und mit Hakenkreuzen verziert. Hunkel gehörte zur Lebensreformbewegung, der braunen Umweltszene des Kaiserreichs, und lebte zeitweise in der völkischen Obstbaugenossenschaft Eden bei Oranienburg.

Das Programm des Jungborn-Verlags zeigt, wie groß die Gemeinsamkeiten zwischen konservativen Aristokraten wie Lettow-Vorbeck und Aussteigern aus der Lebensreform­szene waren. Wie die Kontakte verliefen, lässt sich vorerst nur vermuten, weil dieser Aspekt in der sonst sehr informativen Biografie Schulte-Varendorffs nicht behandelt wird. Jedenfalls schwanden vor der nationalen Erweckung, die beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Deutschen erfasste, die ideologischen Nuancen zwischen jugendbewegtem Wandervogel und Lebensreform einerseits und dem konservativen Establishment andererseits. So gewann der Begründer der FKK-Bewegung, Richard Ungewitter (1869 bis 1958), für sein Buch »Deutschlands Wiedergeburt durch Blut und Eisen«, das nach Kriegsende erschien, als Autoren wüste Antisemiten wie Theodor Fritsch und Jörg Lanz, den Verfechter eines esoterischen Ariermythos, die erwähnten Lebensreformer Gesell und Hunkel, Beamte und pensionierte Offiziere.

Im Sommer 1919 kommandierte Lettow-Vorbeck ein Freikorps in Hamburg, das Zivilisten niederschoss, und beteiligte sich 1920 als Kommandeur in Schwerin am Kapp-Putsch gegen die Republik. Der fehlgeschlagene Umsturzversuch brachte Lettow-Vorbeck das Ende seiner militärischen Karriere. Eine Amnestie rettete ihn zwar vor einer Verurteilung wegen Hochverrats, aber Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) musste ihn entlassen. Der Ex-Offizier betätigte sich fortan in faschistischen Verbänden wie dem Stahlhelm, trat für den »Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund« als Redner auf und saß für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die 1933 mit Hitler koalierte, im Reichstag.

1932 setzte sich Lettow-Vorbeck dafür ein, das Verbot von SA und SS aufzuheben. Nach 1933 war er Mitglied im NS-Kriegerbund und im NS-Reichskolonialbund, dazu Angehöriger der SA und wurde von den Nazis zum bremischen Staatsrat berufen, schreibt Schulte-Varendorff. In erster Linie diente Lettow-Vorbeck jedoch der Nazipropaganda als Redner. Noch 1957 schrieb der Kriegsheld in seiner Autobiografie, Hitler habe Enormes geschaffen, wie die Autobahnen, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und eine starke Wehrmacht. Lettow-Vorbeck wurde 1964 mit militärischen Ehren begraben. In seiner Traueransprache betonte Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (CDU), dass Lettow-Vorbeck »wahrlich im Felde unbesiegt« geblieben sei und stets ritterlich und fair gekämpft habe. Was für einen Marinerichter 2007 billig ist, war für einen kaiserlichen Kommisskopp 1964 eben gerade recht.

Uwe Schulte-Varendorff: Kolonialheld für Kaiser und Führer: General Lettow-Vorbeck – Mythos und Wirklichkeit. Verlag Chr. Links, Berlin 2006, 217 Seiten, 24,90 Euro