Sturm auf die Grenze

Die ägyptischen Beduinen werden von der Regierung für den islamistischen Terror verantwortlich gemacht. Mehrere hundert von ihnen versuchten, nach Israel zu gelangen, um dort Asyl zu beantragen. von thomas schmidinger

Die Demonstranten sammelten sich nahe der israelischen Grenze, blockierten die Straßen und zündeten Reifen an. Diesmal jedoch handelte es sich nicht um Proteste gegen Israel. Die Demonstranten, mehrere hundert ägyptische Beduinen, hatten ein ganz anderes Interesse. Sie wollten auf israelisches Territorium vordringen, um dort politisches Asyl beantragen zu können, doch ägyptische Sicherheitskräfte hielten sie auf.

Anlass der Proteste war der Tod zweier Beduinen, die bei einer Verfolgungsjagd am 26. April von der ägyptischen Polizei erschossen worden waren. Offiziellen Angaben zufolge hatten sie versucht, mit einem Auto ohne Kennzeichen einen Checkpoint zu passieren. Für die Beduinen waren die Todesschüsse nur ein weiterer Beweis für die Brutalität der Polizei und die Diskriminierung ihrer Bevölkerungsgruppe durch die Behörden.

Im Jahr 1999 war es Beduinen aus dem Sinai gelungen, über die Grenze nach Israel zu gelangen und politisches Asyl zu beantragen. Allerdings wurden sie von den israelischen Behörden wieder nach Ägypten abgeschoben. Die Regierung wollte die Beziehungen zu Ägypten nicht belasten, und die israelische Rechte lehnt die Aufnahme arabischer Flüchtlinge oder Migranten ab.

Die mehrtägigen Proteste in diesem Jahr wurden Ende April durch eine Vereinbarung mit den ägyptischen Behörden beendet, die versprachen, die Situation der Beduinen zu verbessern. Sowohl in Ägypten als auch in Israel bilden sie die am meisten benachteiligten und ärmsten Bevölkerungsgruppen. Der Negev wurde größtenteils im 18. Jahrhundert von Beduinen aus dem Sinai besiedelt, die Stammesföderationen sind auf beiden Seiten der Grenze vertreten.

Die traditionell nomadisch oder halbnomadisch lebenden Beduinen haben wenig Verständnis für die Grenzziehung moderner Nationalstaaten, die ihnen den Weg zu Wasserstellen und Weideplätzen versperrt. Derzeit lebt nur noch eine Minderheit von der Viehzucht, doch die israelischen Beduinen definieren sich meist nicht als Israelis, obwohl sie im Militär dienen und als loyale Staatsbürger gelten, und nur wenige Beduinen im Sinai würden sich als Ägypter betrachten.

Mit ihren segmentären Stammesstrukturen, die den Frauen eine relativ starke gesellschaftliche Stellung geben, ihrem eher unorthodoxen Islam und ihrer Mobilität gelten sie der ägyptischen Regierung als ein Relikt vergangener Zeiten, als schwer kontrollierbar und verdächtig. Nach der Besetzung des Sinai durch israelische Truppen wurde ihnen Kollaboration vorgeworfen. Die Beduinen blieben nach dem Rückzug der Israelis ökonomisch marginalisiert. Als die Halbinsel für den Tourismus erschlossen wurde, begünstigten die Behörden »Ägypter« aus dem Niltal bei der Vergabe von Lizenzen. Den Beduinen blieben meist nur die randständigen Jobs, sie leben in Armenvierteln am Rand der Touristenorte.

Die von den Beduinen seit langem erhobenen Vorwürfe wurden im Januar von der International Crisis Group bestätigt, die feststellte, dass die Regierung »wenig bis nichts getan hat, um die Bevölkerung des Sinai in das nationale politische Leben zu integrieren«. Stattdessen hätten es bewusst herbeigeführte »Spaltungen und Herrschaftstricks erlaubt, die lokalen Repräsentanten zu dirigieren«.

Manch ein Beduine wünscht sich deshalb sogar die Israelis zurück, die wenigstens Straßen bauten und ein funktionierendes Gesundheitswesen zur Verfügung stellten. Andere sichern mit dem Schmug­gel, dem Drogenanbau und -handel ihr Überleben, was sie regelmäßig in Konflikt mit den ägyptischen Behörden bringt.

Nach den islamistischen Bombenanschlägen im Juli 2005 in Sharm al-Sheikh und im April 2006 in Dahab eskalierte der Konflikt. Die Regierung machte die Beduinen für die Attentate verantwortlich, die Anwesenheit vieler Polizisten führte zur Einengung der Bewegungsfreiheit der Beduinen und behinderte ihre Geschäfte. Doch vor allem willkürliche Verhaftungen und Folterungen brachten die Bevölkerung gegen den Staat auf. Den Schätzungen von Human Rights Watch und lokalen Menschenrechtsorganisationen zufolge sind etwa 2 500 Beduinen inhaftiert, die meisten, ohne dass gegen sie Anklage erhoben worden wäre.

Aus Ägypten über diese Zustände zu berichten, ist gefährlich. Am 2. Mai verurteilte ein Gericht in Kairo Howaida Taha, eine Journalistin des Fernsehsenders al-Jazeera, zu sechs Monaten Haft und einer Geldstrafe, weil ihr Dokumentarfilm über die Folter in ägyptischen Polizeistationen »den Interessen des Landes geschadet« habe.

Als die Repression dann zwei Beduinen das Leben kostete, begann der spektakuläre Protest an der Grenze. Wenn die Demonstranten es geschafft hätten, nach Israel zu gelangen, wären sie dort zu einer marginalisierten Minderheit gestoßen. Keine Bevölkerungsgruppe hat eine höhere Kindersterblichkeit, Arbeitslosigkeit oder Analphabetenrate, keine hat eine geringere Lebenserwartung als die Beduinen.

Trotzdem ist deren Lage immer noch deutlich besser als jenseits der Grenze in Ägypten, wo die meisten Beduinen in Slums am Rande der neuen Tourismushochburgen des Sinai leben. Im Negev wurden die Beduinen nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948, sofern sie nicht nach Gaza oder in das Westjordanland flüchteten, unter Militärverwaltung gestellt und in ein geschlossenes Gebiet umgesiedelt, das nur noch zehn Prozent der ursprünglich von ihnen besiedelten Fläche ausmachte. Das nordöstlich von Beersheba gelegene »Reservat« wurde zwar 1966 wieder aufgelöst, die meisten israelischen Beduinen leben aber immer noch in den Städten in der Region.

Da auch die israelische Regierung die Mobilität der Beduinen einschränke wollte, wurden sie nach 1948 zwangsweise sesshaft gemacht. Städte wie Rahat gehören zwar zu den ärmsten in Israel, verfügen aber zumindest über eine funktionierende Infrastruktur. Mit 35 000 Einwohnern ist Rahat eine durchaus lebendige, weitläufige Stadt ohne wirkliches Zentrum, der man ihre beduinische Herkunft noch ansieht.

Etwa 65 Prozent der dort lebenden Bevölkerung sind jünger als 20 Jahre, derzeit leben in Israel 120 000 Beduinen, doppelt so viele wie vor 1948. Die israelische Rechte betrachtet das als Teil eines »demographischen Problems«, die nicht jüdische Bevölkerung wächst schneller als die jüdische. Zuzug aus dem Nachbarland ist daher unerwünscht, den Flüchtlingen Asyl zu gewähren, hätte zudem die Regierung des neben Jordanien einzigen arabischen Staates verärgert, der mit Israel einen Friedensvertrag unterzeichnet hat. Es dürfte deshalb auf beiden Seiten als Erfolg gewertet worden sein, dass die Beduinen an ihrer Massenflucht vorerst gehindert werden konnten.