Die Neuordnung der Dinge

Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds verlieren an Bedeutung. Lateinamerikanische Staaten haben ihre eigene Bank gegründet, China tritt in Afrika im großen Umfang als Kreditgeber auf. von lutz getzschmann

Offensichtlich waren es nicht nur die irreguläre Beförderung und die üppige Gehaltserhöhung, die Paul Wolfowitz seiner Lebensgefährtin verschafft hatte, weswegen er kürzlich zum Rücktritt gezwungen wurde. Die Affäre um den Präsidenten der Weltbank kam einer Reihe von Regierungen sehr gelegen, um den ungeliebten Hardliner und Vertrauten von George W. Bush loszuwerden. Dabei weist der Vorgang in seiner Symbolik über den eigentlichen Sachverhalt hinaus. Die einst allmächtigen Institutionen Weltbank und IWF sind ins Straucheln geraten und werden inzwischen nicht mehr nur von linken Ökonomen und sozialen Bewegungen kritisiert, sondern ebenso von zahlreichen Regierungen des Südens.

Seit einigen Jahren wenden sich wichtige Staaten der südlichen Hemisphäre mehr und mehr von den bisherigen Hauptkreditgebern für finanzschwache Staaten, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, und deren harschen Vorgaben ab. In der vorigen Woche erreichte diese Absetzbewegung ihren bisherigen Höhepunkt: Im Namen von fünf weiteren lateinamerikanischen Staaten kündigte der paraguayische Staatspräsident Nicanor Duarte an, dass man eine eigene Entwicklungsbank, eine »Bank des Südens« gründen werde, die ausdrücklich eine Alternative zur IWF und zur Weltbank bilden solle. Zwar wollen die beteiligten Staaten – außer Paraguay sind dies Brasilien, Argentinien, Venezuela, Bolivien und Ecuador – die neue Finanzinstitution auch für asiatische und afrikanische Länder offenhalten, in erster Linie jedoch verfolgen sie damit kontinentale Pläne wie die Schaffung einer lateinamerikanischen Währungsunion.

Diese entwicklungspolitische Unabhängigkeitserklärung kündigte sich im April an, als der ecuadorianische Präsident Rafael Correa den Vertreter der Weltbank in Ecuador zur »unerwünschten Person« erklärte und ihn ausweisen ließ. »Wir wollen nichts mehr von dieser internationalen Bürokratie hören und uns von niemandem mehr erpressen lassen«, sagte er. Am 1. Mai setzte sein venezolanischer Kollege Hugo Chávez einen drauf und gab bekannt, dass sein Land aus dem IWF und der Weltbank austreten werde. Dies seien »Instrumente des amerikanischen Imperialismus«, die »das Geld der Völker« ausgäben. Anfang April hatte Venezuela seine Schulden bei der IWF und Weltbank vorzeitig zurückgezahlt.

Die »Bank des Südens« wäre eine um die Finanzpolitik erweiterte Ausdehnung der Wirtschaftsgemeinschaft Alba (»Bolivarische Alternative für die Amerikas«), mit dem Unterschied frei­lich, dass sich daran mehr Staaten beteiligen. Als Kuba und Venezuela im Dezember 2004 das Alba-Abkommen unterschrieben, vereinbarten sie den Austausch von Waren, Dienstleistungen und Technologien, etwa die Entsendung von kubanischen Lehrern und Ärzten im Tausch für venezolanisches Erdöl. Doch die Ziele reichten von Anfang über eine bilaterale Zusammen­arbeit hinaus.

Allerdings stieß dieses Bündnis zunächst auf das Misstrauen der übrigen lateinamerikanischen Staaten. Dies änderte sich erst, als Argentinien Ende 2005 überraschend seine kompletten Schulden beim IWF, die sich auf 9,8 Milliarden US-Dollar beliefen, auf einen Schlag beglich, was dadurch ermöglicht wurde, dass Venezuela argentinische Staatsanleihen in Höhe von 900 Millionen US-Dollar gekauft hatte. Kurz darauf tilgte auch Brasilien alle Schulden beim IWF. Die Befreiung von ihren Zahlungsverpflichtungen ermöglicht es beiden nun, bilaterale Geschäfte ohne den Umweg über den US-Dollar zu tätigen.

So vollzieht sich die lateinamerikanische Integration auf zwei Ebenen. Auf der politischen gibt es das Alba-Abkommen, dem inzwischen auch Bolivien und Nicaragua bei­getreten sind. Neben den innen- und außen­politischen Gemeinsamkeiten dieser Länder ist Alba eine Freihandelszone und ein Markt­platz für den Austausch von wirtschaftlichen und sozialen Mitteln.

Am vorigen Gipfeltreffen der Alba-Staaten im April dieses Jahres nahmen auch Ecuador, Uruguay, Haiti und drei kleine Karibikstaaten als Beobachter teil. Wirtschafts- und vor allem finanzpolitisch Sinn ergibt eine solche Integration jedoch erst durch das Hinzutreten größerer und ökonomisch potenterer Staaten wie Brasilien und Argentinien, die mit der politischen Ausrichtung von Hugo, Castro & Co. nur wenig anfangen können, aber ein Interesse an einer von den Industriestaaten des Nordens und den von ihnen dominierten Finanzinstitutionen unabhängigen ökonomischen Entwicklung haben.

So ist es kein Widerspruch, dass zu den Gründungsmitgliedern der »Bank des Südens« auch die konservative Regierung Paraguays gehört. »Es geht natürlich um mehr als die Errichtung einer weiteren Bank – es geht um die Schaffung eines Systems, das darauf ausgerichtet wird, ökonomische Selbstständigkeit zu erlangen und am Weltmarkt über die Preise, zu denen unsere Roh­stoffe gehandelt werden, mitbestimmen zu können«, erläuterte der venezolanische Minister für Integration und Außenhandel, Gustavo Márquez Marín, in der österreichischen Tageszeitung Der Stan­dard.

Ob die soziale Dimension des Projekts, die er im selben Interview nannte, in diesem Zusammenhang tatsächlich eine große Rolle spielen wird, darf jedoch bezweifelt werden. Bislang zumindest standen die Überwindung des Analphabetismus, die Schaffung einer allgemein zugänglichen Gesundheits­versorgung oder der Bau von Sozialwohnungen, von denen Marín spricht, auf den Prioritätenlisten des argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner und des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva nicht an vorderer Stelle.

Weniger politisch aufgeladen, aber für die Weltbank nicht minder brisant sind die Entwicklungen in Asien. Insbesondere China agiert nicht nur völlig unabhängig von den Vorgaben des IWF, sondern verfolgt auch eine offensive Strategie zur Erschließung des Weltmarktes. Dazu gehört die systematische Vergabe von Krediten, nach denen vor allem in Afrika die Nachfrage wächst. Die Chinesen verbinden ihre Kredite mit ähnlichen Finanzierungsbedingungen wie die Weltbank, stellen aber erheblich weniger wirtschafts- und sozial­politischen Auflagen.

Dass die diesjährige Jahrestagung des Gouverneursrates der Afrikanischen Entwicklungsbank in Shanghai stattfand und als Präsident dieses Rates der Präsident der chinesischen Nationalbank Zhou Xiaochuan fungiert, zeigt deutlich, wie stark der globale politische Einfluss Chinas bereits gediehen ist. Nach Angaben von Donald Kaberuka, Präsident der Afrikanischen Entwicklungsbank, hat sich das chinesisch-afrikanische Handelsvolumen in den vergangenen sechs Jahren verfünffacht, so dass China unter den Handelspartnern der afrikanischen Staaten nach den USA und den EU-Staaten inzwischen den dritten Platz einnimmt.

Diesem Handelsvolumen entspricht die aggressive Kreditvergabe der chinesischen Staatsbank, die mittlerweile auch die G 8-Staaten auf den Plan gerufen hat. Die Bundesregierung legte am Freitag den anderen G 8-Staaten einen Resolutionsentwurf vor, in dem die Volksrepublik China aufgefordert wird, nicht länger Kredite im großen Stil an afrikanische Länder zu geben, ohne die üblichen Bedingungen und Sicherheiten zu fordern. China müsse die Kriterien der Weltbank und des IWF für die Vergabe von Krediten beachten. Ebenso wurde kritisiert, dass die chinesischen Kredite den im ver­gangenen Jahr beschlossenen Schuldenerlass für die afrikanischen Länder konterkarierten.

In der Tat kann davon ausgegangen werden, dass die Ausweitung der chinesischen Investitionen und Kredite in afrikanischen Ländern nicht, wie Ratspräsident Zhou auf der Shanghaier Tagung behauptete, der »Armutsbekämpfung und der Entwicklung auf beiden Kontinenten« dient. Was die chinesische Regierung gerne als gleichberechtigte Süd-Süd-Kooperation darstellt, ist in Wirklichkeit die Profilierung Chinas als Global Player im kapitalistischen Weltsystem, der inzwischen auf dem Gebiet der Entwicklungsfinanzierung dem IWF und der Weltbank, den Finanzinstitutionen der alten imperialen Mächte zumindest in bestimmten Gegenden der Welt den Rang abläuft.

Nicht unwesentlich ist dabei Chinas immenser Bedarf an Erdöl und anderen Rohstoffen, der in Afrika gedeckt werden soll. Die Ersetzung alter durch neue ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse wird mittlerweile auch von afrikanischen Politikern und Kritikern beklagt, allen voran vom südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki: »Der Handel zwischen Afrika und China muss auf einem gleichen Tausch basieren. Wenn Afrika nur Rohstoff­lieferant und Konsument von chinesischen Industrie­produkten bliebe, wäre dies eine Wiederholung der historischen kolonialen Beziehungen«, sagte er im Dezember vorigen Jahres vor Studenten in Kapstadt.

Allerdings ist es keineswegs so, dass China mit Krediten um sich wirft, ohne auf Sicherheiten zu achten. Kürzlich wurde etwa bekannt, dass China der namibischen Regierung Kredite in Milliardenhöhe anbot, dafür aber sämtliche namibische Bodenschätze als Sicherheitsgarantie verlangte. Zugleich überschwemmen chinesische Unternehmen den afrikanischen Kontinent mit Billigwaren, was für die Entwicklung dieser Länder ähnliche Folgen hat wie die diversen Liberalisierungsprogramme des IWF. Die schwach entwickelten lokalen Industrien können dem Kostendruck nicht standhalten, der durch die Marktöffnung für chinesische Produkte ausgelöst wird.

Was für afrikanische Länder gilt, scheint selbst für die USA allmählich zum Problem zu werden. Durch Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im November 2001 wurden chinesischen Exporten neue Möglichkeiten eröffnet. Seither werden chinesische Produkte in riesigen Mengen in die USA exportiert, während jene Ziele, die die US-amerikanische Regierung mit dem chinesischen Beitritt zur WTO verband, nämlich die Erschließung des riesigen chinesischen Marktes für Importe aus den USA, sich nicht einmal ansatzweise realisieren ließen. Im vorigen Jahr verbuchten die USA im Handel mit der Volksrepublik China ein Rekorddefizit von 232 Milliarden US-Dollar.

So war das mit dem WTO-Beitritt nicht gemeint, muss man sich im US-Wirt­schaftsministerium gedacht haben und beschwerte sich im April bei der WTO über das »inakzeptabel hohe« Ausmaß an chinesischer Produktpiraterie, das eine Verletzung der Vereinbarungen der WTO darstelle. Diese Beschwerde sei nicht der Beginn eines Handelskriegs, versuchte die Außenhandelsbeauftragte der US-Regierung, Susan Schwab, zu beschwichtigen. Allein dass sie es für nötig hielt, dies eigens zu betonen, deutet darauf, dass das Gegenteil wahr ist.

All dies zeigt die veränderten Kräfteverhältnisse im globalen Kapitalverhältnis. Die Weltbank und der IWF werden für einige der neuen Akteure unattraktiv, weil sie diese Verschiebungen in ihrer Struktur nicht widerspiegeln.

Beide Organisationen gehen auf die Bretton-Woods-Konferenz von 1944 zurück und dienten ursprünglich dazu, die festen Wechselkurse des damaligen internationalen Finanzsystems abzustimmen und die Mitgliedstaaten mit Währungsreserven zu versorgen. Nach dem Zusam­menbruch des Bretton Woods-Systems im Jahr 1973 wandelten sie sich zu zinsgünstigen Kreditgebern bzw. -vermittlern für Entwicklungsländer, wobei die Vergabe von Krediten an strikte Auflagen geknüpft wurden. »Private Sector Developement« heißt das Zauber­wort, das nichts anderes bedeutete, als die Privatisierung der öffentlichen Sektoren und der Infrastruktur, der Reduzierung von Sozialausgaben und investorenfreundliche Marktöffnung in den kreditsuchenden Ländern voranzubringen.

Die treibende Kraft dieser Strategie, die eine Zurichtung der Ökonomien des Südens auf die Bedürfnisse des Weltmarkts bedeutete, waren und sind die großen Industriestaaten wie Deutschland, Japan und allen voran die USA. Nach wie vor verfügen die USA in der Weltbank über ein Vetorecht und können im IWF strategische Entscheidungen durch ihre Sperrminorität verhindern. Doch der Anstieg der Zinsen und der Verfall der Exportpreise seit Ende der achtziger Jahre ließen zahlreiche Länder immer mehr in die Schuldenfalle rutschen. Auch die Folgekredite, die nicht selten allein dazu dienten, vorangegangene Kredite zu bedienen, wurden und werden nur gegen Auflagen vergeben, die oft noch strikter ausfallen.

Angesichts der katastrophalen Folgen dieser Kreditpolitik verwundert es nicht, dass man im Süden nach Alternativen sucht. Den drohenden Bedeutungsverlust des IWF und der Weltbank hat man inzwischen auch in den Industriestaaten des Nordens bemerkt. So glaubt Adam Lerrick, der als Berater für den Wirtschaftsausschuss des US-Kongresses tätig ist, dass die Weltbank völlig irrelevant werden könne, wenn sie nicht einen radikalen Strategiewechsel vollziehe. Ein großer Teil ihrer Kredite sei stets an Schwellenländer wie China, Brasilien oder Argentinien gegangen, die diese nicht mehr benötigten. Die Weltbank solle sich auf die wirklich armen Länder konzentrieren und müsse »lernen und akzeptieren, dass sie im Entwicklungsgeschäft tätig ist, nicht im Bankengeschäft«.

Wäre er ein Freund offenere Worte, hätte er auch sagen können: Die Weltbank muss sich darauf konzentrieren, im Interesse der G 8-Staaten eine Gegen­strategie zu der chinesischen Herausforderung im Kampf um die knapper werdenden Rohstoff- und Energieressourcen zu entwickeln. Einer solchen Wende stehen derzeit allerdings die zunehmenden Widersprüche zwischen den ökonomischen Interessen der USA und der EU-Staaten im Wege.

In ihrer Rolle als Kreditgeber bekommt die Weltbank zudem Konkurrenz von privaten Investoren, die ebenfalls geringere Bedingungen stellen. »Früher gab es einen großen Zinsunterschied zwischen Weltbank und privaten Kreditgebern. Der ist mittlerweile auf zwei Prozent geschrumpft«, sagt Lerrick. Und mit zwei Prozent ließe sich kaum ein Kreditnehmer locken, wenn er dafür umfangreiche Auflagen annehmen müsste.

Was beim bevorstehenden G 8-Gipfel in Heiligendamm deutlich wird, gilt auch für die Welt­bank und den IWF: Während die USA, Japan und die großen EU-Staaten, die hier wie dort das Sagen haben, versuchen, als internationale Regulierungsinstanz für die politisch-ökonomischen Beziehungen aufzutreten, sind einige der auf die Zuschauertribüne verbannten Staaten Lateinamerikas und Asiens damit beschäftigt, ihre eigenen Interessenskonsortien zu bilden und sich ihren Anteil an den Weltmärkten zu sichern. Und da ihre Interessen in den existierenden Institutionen und Machtzirkeln nicht berücksichtigt werden, schaffen sie sich eben eigene. Mit einer Alternative zum kapitalistischen Weltmarkt und dessen Funktionsweisen hat das allerdings nichts zu tun. Es geht nicht eine Umwälzung der Verhältnisse, sondern um ihre Neuordnung innerhalb des kapitalistischen Weltsystems, das damit in eine neue Phase seiner Entwicklung eintritt.