»Singapur wird sich demokratisieren müssen«

Chee Siok Chin und Chee Soon Juan

Ein kleines Büro am Stadtrand von Singapur. An der Wand hängen zwei offensichtlich oft getragene T-Shirts mit der Aufschrift »Democracy Now!« und »Freedom of Speech«. Hier befindet sich der Sitz der Democratic Party of Singapore (DPS). Ihr Generalsekretär ist Chee Soon Juan. Er ist der wohl bekannteste Menschenrechtler in Singapur. Bereits fünf Mal war er wegen seiner Überzeugungen im Gefängnis. Mit ihm und seiner Schwester Chee Siok Chin sprach Michael Holmes

Frau Chee Siok Chin, in den Augen vieler Europäer und Amerikaner ist Singapur zwar autoritär, aber westlich, modern und weltoffen.

Die Situation in Singapur ist etwas besser als in Burma oder Nordkorea, aber nicht viel besser. Singapur ist Weltklasse, was Wirtschaft und Technologie betrifft. Es ist eine sehr mo­derne Stadt. Aber da ist diese dunkle Seite, diese Unfreiheit, die viele Touristen oder Geschäftsleute zunächst nicht richtig wahrnehmen. Vor ein paar Wochen haben wir wie­der versucht zu demonstrieren. Aber in dieser Stadt gelten bereits fünf Menschen, die sich zu einer Demonstration verabreden, als »illegale Versammlung«. Also haben wir uns in kleinen Vierer-Gruppen getroffen, was offiziell nicht verboten ist. Und trotzdem haben sie sofort ein Sonderkommando geschickt. Es war absurd, völlig übertrieben und unbegründet. Wir waren absolut friedlich. Wir haben abgebrochen, aber den Fall vor Gericht gebracht.

Was kam dabei heraus?

Wir wurden zu einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 10 000 Euro verurteilt. Seit 1980 gab es in Singapur fast keine Demons­tra­tio­nen. Die Menschen hier sind nicht daran gewöhnt, sich frei zu äußern, und es ist auch fast unmöglich. Letzten September beim Weltbank-Gipfel in Singapur haben wir die Chance ergriffen und sind auf die Straße gegangen.

Wie viele waren Sie?

Nur sieben Demonstranten – trotzdem hat sich die Weltpresse sofort auf uns gestürzt. Das hat uns geschützt. Denn wir waren ja illegal, und die Polizei hat uns sofort den Weg abgeschnitten. Aber dieses Mal waren sie vorsichtiger und haben mit uns verhandelt. Sie haben gedroht, uns sofort zu verhaften, sobald wir uns vom Fleck bewegen. Also standen und saßen wir drei Tage und Nächte an diesem winzigen Platz, umringt von Polizisten und Fernsehkameras. Eine Woche später war die Weltpresse wieder verschwunden, und wir wurden wie immer zu saftigen Geldstrafen verurteilt.

Wer hält hier in Singapur die Fäden in der Hand?

Bis in die neunziger Jahre wurde Singapur von Lee Kuan Jew regiert, dem legendären Führer der People’s Action Party (PAP). Heute regiert sein Sohn. Offiziell ist Singapur eine Demokratie, in Wirklichkeit aber ist es ein Ein-Parteien-System. Die PAP kontrolliert das Fernsehen, das Radio und die Zeitungen. Man braucht eine Lizenz zum Drucken, die ein Kritiker der herrschenden Partei nicht bekommen wird.

Dennoch wurde im Mai vorigen Jahres gewählt – waren die Wahlen fair?

Nun, es gab keine Gewalt und keine Wahl­fälschung im strengen Sinne. Trotzdem sind die Umstände so, dass die Opposi­tion kaum reale Chancen hat. So hat etwa die PAP während den Wahlen jedem Einwohner Singapurs je nach Einkommen 200 bis 600 Dollar überwiesen, einfach so. Ich bin vor Gericht gezogen und habe argumentiert, dass das kein fairer Wettbewerb sei. Ich wurde einmal mehr zu einer Geldstrafe verurteilt.

Singapur ist im Westen berühmt für seine unverhältnismäßigen Strafen.

Vieles ist unglaublich. Auf Drogenhandel steht hier die Todesstrafe. Da reichen bereits 500 Milligramm Marihuana. Erst vor zwei Wochen wurde ein 18jähriger Afrika­ner hingerichtet. Und selbst der Richter musste eingestehen, dass seine Schuld nicht bewiesen werden konnte.

Herr Chee Soon Juan, Sie waren fünf Mal im Gefängnis. Warum?

Ich habe »ohne Erlaubnis in der Öffentlich­keit gesprochen«. Ich kritisiere die Regierung, nichts weiter.

Bekommen Sie denn Unterstützung?

Ja, vor allem aus dem Ausland. Viele NGO und Menschenrechtler haben berichtet und protestiert.

Und ist das eine Hilfe?

Sicher. Aber ich glaube, dass die Regierung besonders auf ökonomischen Druck reagiert. Denn sie wird sich immer auf ihre angeblichen ökonomischen Erfolge berufen.

Aber das Land hat sich tatsächlich rasch entwickelt.

Aber auf lange Sicht gibt es keine gu­te Ökonomie ohne checks and balan­ces. Autoritäre Regime sind gegen den menschlichen Geist, gegen Kreativität und folglich auch gegen das Unternehmertum. Demokratie fördert das ökonomische Wachstum.

Einer Theorie zufolge fördert auch das ökonomische Wachstum die Demokra­tie.

Ich glaube, dass die Menschen auch hier Veränderungen herbeiführen wer­den. Südkorea und Taiwan waren auto­ritär, aber beide Länder haben sich sehr verändert.

Sie sind also optimistisch?

Ja, besonders seit wir das Internet haben. Kommunikation ist das wichtigste. Singapur wird sich demokratisieren müssen. Eine moderne Gesellschaft mit einer modernen Ökonomie braucht ein gutes Erziehungssystem, eine offene Diskussionskultur und demokratische Kontrollen. Ich gebe Singapur zehn Jahre. Sie können die Flut an Informationen nicht mehr aufhalten.

Wie würden Sie die Ideologie der Regierung beschreiben?

Ich bin nicht sicher, ob »Ideologie« das richtige Wort ist. In den fünfziger und sechziger Jahren war sie sozialistisch. Heute ist Sozialismus nur noch ein Name, wie in China. Sie versprechen ökonomisches Wachstum. Sie sagen den Leuten: Seid ruhig, die Wirtschaft läuft gut. Aber die Menschen wollen nicht nur Wirtschaftswachstum. Die Regierung predigt heute den »Singapore Way«, das bedeutet: Disziplin ist wichtiger als Demokratie. Besonders betont wird der Respekt vor Autoritäten. Und man ist gegen Individualismus, denn Individualismus ist »westlich«.

Aber die Regierung sieht sich doch auch als westlich orientiert, oder?

Sie sagt: Westliche Ökonomie und Technologie sind gut – westliche Politik ist schlecht. Die Regierung trichtert den Leu­ten ein: »Wir haben all das aufgebaut, uns habt ihr diese Erfolge zu verdanken.« China und Vietnam sehen ein Rollenmodell in Singapur. Die Regierung hier ist neoliberal, aber nicht liberal. Sie sagt von sich selbst: kapitalistischer Kopf, sozialistisches Herz.

Fürchten sich die Menschen tatsächlich vor einer Verwestlichung ihrer Kultur?

Ja, der Individualismus hier ist noch sehr oberflächlich. Aber er beginnt langsam einzusickern. Das braucht Zeit. Wir müs­sen die Menschen überzeugen, dass die Demokratie keine Gefahr für den neuen Wohlstand ist. Im Gegenteil! Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten.

Glauben Sie, es könnte einen Aufstand für mehr Demokratie geben?

Jetzt noch nicht. Jetzt ist die Aufbauphase. Die Demokratiebewegung muss wachsen. Die meisten Menschen haben immer noch Angst, mit uns zu sprechen.

Was würde passieren, wenn die Demokraten in Singapur auf die Straße gehen würden?

Natürlich würde die Regierung versuchen, die Opposition zu zerschlagen. Aber es wird nichts helfen. Sie können keine massive Gewalt einsetzen. Das geht heute einfach nicht mehr. Singapur ist eine moderne Stadt, da kann die Regierung nicht einfach ihre Bürger töten. Irgendwann wird es Demonstrationen für mehr Freiheit geben. Sie werden klein beginnen. Und in diesem Moment brauchen wir alle Unterstützung, damit sie uns nicht sofort wieder zum Schweigen bringen.