Können Bilder schreien?

Zum Tode des Medientheoretikers Rudolf Arnheim. von roger behrens

Anfang des 16. Jahrhunderts wird in Rom zwi­schen Ruinen eine Marmorskulptur entdeckt, die als »Laokoon-Gruppe« berühmt wird und seither im Vatikanischen Museum zu besichtigen ist. Sie zeigt den trojanischen Priester Laokoon und seine beiden Zwillingssöhne im Todeskampf mit zwei von Athene geschickten Schlan­gen. Die Figurengruppe, die übrigens selbst eine Kopie ist, hat für das Menschenbild der Renaissance und der Neuzeit enorme Bedeutung – auch wenn oder gerade weil sie vom Mythos handelt. Hier geht es um die Wirklichkeit und um die Frage, inwieweit Kunst geeignet ist, diese Wirklichkeit als solche zu erfassen. Können Schmerz und Leiden mit den Mitteln der Schönheit dargestellt werden? Lässt sich ästhetisch das Sterben anschaulich machen?

Bereits in der Antike werden diese Fragen in Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der Künste untersucht. Mit der Renaissance entwickelt sich daraus um 1500 der so genannte Paragone, der Wettstreit der Künste, bei dem hauptsächlich Malerei versus Plastik versus Architektur verhandelt wurden. Mit der Aufklärung erlangt der Wettstreit der Künste neue Bedeutung, sofern es jetzt um die Literatur als neue Leitkunst der noch jungen bürgerlichen Gesellschaft geht.

Berühmt und wegweisend sind hier Lessings »Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie« von 1766 oder Goethes »Über Laokoon« von 1798. Malerei und Dichtung seien beides nachahmende Künste, doch hätte, so Lessing, die Dichtung den Vorrang, da sie Handlungen darzustellen vermag und so auch angemessen die Emotionen, während die Bildende Kunst hier an die Grenzen der Gesetze der Schönheit kommt, so dass etwa in der Laokoon-Gruppe der Schmerz zu einem Seufzen gemildert werden musste.

Hinzu kommt, dass Ende des 18. Jahrhunderts die Ästhetik zunehmend an die Künste gebunden wird, diese selber durch eine Ästhetik des Kunstwerks aufgewertet und damit hierarchisiert werden. Prominent ist dafür Hegels Rangfolge der Küns­te nicht nur deshalb, weil er Musik und Archi­tektur der Poesie unterordnet, sondern weil er gleichzeitig vom Ende der Kunst spricht: von einem Funktionsverlust der romantischen Kunst für das bürgerliche Zeitalter.

Was hier idealistisch gedacht wurde, erfährt im Verlauf des 19. Jahrhunderts seine materialistische Bestätigung durch die Erfindung der neuen Künste, von der Fotografie (1830er) bis zum Film (1890er). Darauf reagierte Rudolf Arnheim 1938 mit einem kurzen Essay mit dem prägnanten Titel »Neuer Laokoon«. Anders als bei Lessing geht es nicht um Malerei versus Poesie, sondern um den Streit zwischen Stummfilm und, wie man damals noch sagte, Sprechfilm. Der Tonfilm errege ein »Unbehagen« durch das »verwirrende Nebeneinander zweier Stimmen (…), die jede ihre Sache nur halb sagen können, weil sie einander stören«. Arnheim fragt deshalb nach der »grundsätzlichen Möglichkeit oder Unmöglichkeit« des Tonfilms. Wie das Theater versucht auch der Sprechfilm, »das Bild und das Wort« in eine »Einheit zu zwingen«. Der Unterschied sei allerdings, dass auf der Theaterbühne das Bild das Wort unterstützt, hingegen auf der Leinwand das Wort das Filmbild einschränkt, die Szene zerreißt – der »Dialog lähmt die sichtbare Hand­lung«.

»Um es recht grob zu sagen: Man kann nicht einen Ton in ein Gemälde einfügen!« So zeige sich, »dass der Dialog kein geeignetes Mittel ist, um die Bildgestaltung auf der Filmwand zu fördern, sondern dass er diese vielmehr einschränkt und hemmt.« – »Ist also der Sprechfilm künstlerisch möglich? Er ist möglich, als gelegentlicher Einzelfall, unter Opfern …« Arnheim blieb zeit seines Lebens bei dieser Einschätzung.

Mag diese Einschätzung uns heute, wo wir den Tonfilm für selbstverständlich erachten, auch absurd erscheinen, so verweist sie auf ein spezifisches Verfahren der Arnheimschen Medientheorie: nämlich die Orientierung am Material, das heißt sowohl an den materiellen Bedingungen der medialen Produktion als auch an den materialen Voraussetzungen der medialen Rezeption.

Arnheim ist nicht nur einer der ersten und originellsten Filmtheoretiker, der einiges dazu beigetragen hat, dass überhaupt »Film als Kunst« anerkannt wird (so der Titel seines Grundlagenwerks von 1932), sondern er hat sich vor allem auf dem Gebiet der Wahrnehmungstheorie als Kunstpsychologie einen Namen gemacht

Rudolf Arnheim wurde am 15. Juli 1904 in Berlin geboren, wo er aufwuchs, studierte, promovierte und bei der Weltbühne arbeitete. 1933 emigrierte er zunächst nach Rom, dann 1939 nach London. 1940 zog er nach New York, wo er bis 1968 lebte. Hier lehrte er an der New School for Social Research Kunstpsychologie. Bis 1974 lebte er in Cambridge, dann zog er nach Ann Arbor, Michigan, wo er am 9. Juni, kurz vor seinem 103. Geburtstag, gestorben ist.

Ganz entgegen der esoterischen und pseudo­idealistischen Medientheorie, wie sie vor allem verbunden mit dem Namen Marshall McLuhan zur akademischen Mode avancierte, ist Arnheims Forschung der Schlüssel zu einer verdrängten materialistischen Medientheorie, die untrennbar mit der gewaltigen Umwälzung der Kulturtechniken verbunden ist, die sich zwischen den zwanziger und den vierziger Jahren vollzog: Rundfunk, Kino, Schnappschussfotografie, die Massenmedien, von denen in den Dreißigern erstmals gesprochen wird, und das Schicksal der traditionellen Künste – das sind Arnheims Themen.

Gerade die kunstpsychologischen Untersuchungen machen Arnheims Medientheorie zum missing link zwischen der radikalen Kulturtheo­rie Siegfried Kracauers und Walter Benjamins einerseits und der kritischen Kunsttheorie etwa Clement Greenbergs andererseits. Noch steht es aus, Arnheims Artikel über den »Neuen Laokoon« mit Greenbergs 1940, also zwei Jahre später, veröffentlichtem Essay »Towards a Newer Laocoon« zu konfrontieren (eine Reaktion nicht auf Arnheim, sondern auf Irving Babbitts Studie »The New Laokoon. An Essay on the Confusion of the Arts« von 1910).

Hier geht es um den Wettstreit der Künste vor dem Hintergrund zweier Weltkriege. Dieselbe Epoche, in der die Literatur als bürgerliche Leitkunst durch die neuen Medienkünste infrage gestellt wird, ist auch das »Katastrophenzeitalter« Hobsbawms. Der neue Laokoon ist nicht die mythologische Figur im Todeskampf, sondern der wirkliche Mensch, der auf den Schlachtfeldern der Moderne vernichtet wird. Welche Kunstform vermag ihn darzustellen? Und: Wie kann die Kunst gegen diese Wirklichkeit noch bestehen?

Arnheim ist gewiss kein Materialist im Marxschen Sinne. Dialektik und Kritik der politischen Ökonomie gehören nicht zu seinem theoretischen Inventar. Auch das kritische Bewusstsein von der Ästhetisierung der Politik, wie es für Benjamin prägend war, fehlt Arnheim. Materialistisch ist indes seine kunstpsychologische Lehre von der (optischen) Wahrnehmung, die auf eine Rehabilitierung des Auges als Erkenntnisorgan hinausläuft und damit auf eine Ästhetik, die mit dem Problem der Wirklichkeit mehr zu tun hat als mit der Idee der Schönheit: »Alles Denken hängt von den Sinneserfahrungen ab«, wie Arnheim 1999 gewissermaßen sein Lebenswerk in einem Grundsatz zusammenfasst.