They got the old, they got the new

Vier Tage im Jahr wird die Stadt Novi Sad zum Zentrum der globalisierten Popkultur. Das ehemals dissidente Exit-Festival glänzt heute durch Kommerz, prominente Namen und die Überreste des alten Jugoslawien. Von Sonja Eismann

Der amerikanische Techno-Musiker Green Velvet ist außer sich. Aufgeregt rutscht der Chicagoer auf dem Sitz des kleinen Shuttlevan herum, lacht und gestikuliert und kann es kaum fassen: Auf dem Transfer vom Flughafen Belgrad zum Festival-Ort Novi Sad schlurft eine Kuhherde gemütlich über die Landstraße und zwingt den Fahrer zur Drosselung seines halsbrecherischen Tempos. »They’re just out there, hanging out!« kreischt der Mann hysterisch vor Freude über diese erzwungene Pause. Nach einem Blick auf alte Yugo-Fiats, verrostende Bushaltestellen und Kinder auf Mountain Bikes stellt er zufrieden fest: »They got the old, they got the new – I love it!«

In Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, in der im Juli zum achten Mal das Exit-Festival stattfindet, bestätigt sich nach einer gut einstündigen Fahrt über holprige Straßen dieses Urteil. Die knapp 300 000 Einwohner zählende Stadt, die traditionell als kulturelles Zentrum ­Serbiens und mittlerweile auch als ökonomisch erfolgreich gilt, gibt sich k.u.k-österreichisch. Sie besitzt eine hübsche Prachtarchitektur aus dem 19. Jahrhundert, wirkt zugleich ostblock-rationalistisch mit Zweckbauten wie dem serbischen Nationaltheater aus weißem Marmor und international mit der selbstverständlichen Präsenz zahlloser Marken von Adidas bis Zara in schicken Innenstadtshops und mehrstöckigen Shopping Malls. Das staatliche Hotel Putnik, in dem einige Musiker und Journalisten untergebracht sind, sieht mit seinen vergilbten Jutetapeten, zerschlissenen Vorhängen und fast blinden Fenstern dagegen aus, als sei es seit dem Tod Titos 1980 mehr oder weniger aufgegeben worden. Allein die melancholische Ahnung, wie modern das zentral gelegene Haus vor drei Jahrzehnten gewesen sein muss, spukt noch durch die dunklen Gänge.

Um zum Festival zu kommen, muss man eine Brücke über die breite Donau queren. Nichts erinnert an die monatelangen Nato-Bombardements von März bis Juni 1999, bei denen alle drei Brücken Novi Sads zerstört wurden – ­außer vielleicht den drei Pfeilerstummeln weiter stromabwärts. Für die Massen an britischen Festival-Touristen dagegen, die mit Bier bewaffnet zur schmucken Festung Petrovaradin aus dem 18. Jahrhundert strömen, auf der das viertägige Popereignis stattfindet, ist der Ort vor allem wegen einer Sache interessant: Die Festivaltickets sind spottbillig. Geduldig lassen sich alle Musikfans an den Eingängen von der staatlichen Po­lizei, offensichtlich auf Drogensuche, in Hand-, Brief- und Hosentaschen schauen, schieben sich dann euphorisch bis aggressiv über den Staub und das historische Kopfsteinpflaster der weitläufigen Anlage, kaufen brav Umengen von den seit diesem Jahr als Zahlungs­mittel eingeführten »Tokens« und tauschen diese gegen Bier ein – es gibt nur eine Sorte Bier, das dänische Unternehmen mit sei­nem omnipräsenten grünen Logo ist Haupt­sponsor. Sehr beliebt ist die »Bierhandtasche«, ein Pappträger mit sechs offenen Bierbechern, den vor allem männliche Besucher johlend über ihrem Kopf zu ihren Freunden transportieren.

Seit der Gründung des Exit, das 2000 kurz vor dem Sturz Milosevics als eine von Studenten organisierte, 100tägige Protestveranstaltung mit vielen lokalen Bands begann, wurde das Ereignis straff durchkommerzialisiert und gilt mittlerweile als größtes Pop-Festival in ganz Südosteuropa. Ab 2004 machte sich die britische Musikpresse für die Veranstaltung stark. Die enge Kooperation mit britischen Mitarbeitern und der britischen Presseagentur hat Exit erfolgreich auf die Landkarte des internationalen Festivaltourismus gesetzt. »Der größte Teil ausländischer Besucher kommt aus England«, bestätigt der Marketing-Koordinator des Festivals, der Brite Paxton Talbot, das Offensichtliche, »aber wir haben Tickets in 37 Ländern verkauft.« Auf die Frage, wie sehr der britische Musikgeschmack das Programm der Veranstaltung bestimme, wiegelt er ab, gesteht aber ein, dass anfangs große Namen gebucht wurden, um die Aufmerksamkeit der internationalen Presse zu erregen. Das Line-Up der Hauptbühne könnte jedoch überall laufen: Headliner sind die Beas­tie Boys, Snoop Dogg, The Prodigy, Lauryn Hill und Basement Jaxx. Allein auf der deutlich kleineren Fusion Stage tummeln sich zahllose Balkan-Bands, die im Westen zumeist völlig unbekannt sind. Den größten Zulauf bekommen auf dieser Bühne dann auch die Briten Peter and the Test Tube Babies und das obskure Kraftwerk-Folgeprojekt Wolfgang & Dyko. Auf den zahllosen kleinen anderen Bühnen, die alle die Namen eines Sponsors tragen, treten regionale Bands wie Paprika Balkanicus auf – angeblich alle ohne Gage.

Der politische Anspruch des Festivals, der von den Organisatoren nach wie vor betont wird, äußert sich in der Präsenz zahlreicher kleiner Stände in der »Place to Move« genannten NGO-Area. Hier tummelt sich eine krude Mischung aus Aids-Prävention, Tierrechtsaktivismus und EU-Initiativen, und auch das spanische Kulturinstitut Instituto Cervantes sowie eine Tourismus-Organisation für den Donauradwanderweg dürfen dabei sein. Den Besuchern ist’s weit­gehend egal – die meisten schauen höchstens auf ihrem Weg zwischen den einzelnen Bühnen vorbei oder legen einen kurzen Stopp ein, weil es einer der wenigen Orte ist, an dem sich keine drängelnden Menschenmengen auf die Füße treten. Für Freitag­abend ist ein Panel zum Thema »Knowledge Circulation between West Balkans and European Union« angesetzt, zu dem sogar der slowenische EU-Kommissar für Wissenschaft und Forschung, Janez Potocnik, angekarrt wurde. Vor der abseits gelegenen Bühne finden sich nur wenige Leute ein, die meisten im Büro-Look und deutlich älter als die Festival­massen. Die Diskussion geht los – auf Serbisch. Eine Übersetzung zwecks besserer Wissens­zirkulation gibt es nicht.

An einem etwas verloren wirkenden Stand ne­benan verteilt eine Aktivistin von Women@Work aus Belgrad Info-Material zu ihrem eigenen Kol­lektiv sowie zu Queer Beograd. »Ja, wir sind die einzige Gay-Lesbian-Bi-Transgender-Anlaufstelle auf dem Festival«, bestätigt sie die Beobachtung. »Es ist wirklich nicht einfach in einem Land, in dem Homosexualität als Krankheit angesehen wird«, seufzt sie, »deswegen macht Queer Beograd auch nie öffentlich Werbung für seine Aktivitäten, sondern nur über informelle Kanäle.« Sie berichtet von Ausschreitungen bei einer Human-Rights-Parade im Zentrum Novi Sads am Tag zuvor. Später bestätigen zwei Mitarbeiterinnen der EU-Kam­pagne »All different, all equal«, die auch auf dem Festival anwesend ist, den Vorfall. Riikaa aus Finn­land und Mischo aus Bosnien erzählen, die von ihrer Organisation veranstaltete Parade sei von glatzköpfigen Männern angegriffen worden, die rassistische Parolen geschrien und einen Teilnehmer schwer sowie fünf weitere leicht verletzt hätten.

Auf der Großbildleinwand neben der Hauptbühne, auf die alle Auftritte projiziert werden, laufen auf einem Streifen am unteren Rand ununterbrochen SMS-Botschaften. Das meiste ist auf Serbisch, nur ab und zu verirren sich englische Sprüche darunter. »I am looking for a black woman to do doggy style with her«, flimmert unter den Musikern vom Wu-Tang-Clan durch, und irgendwann danach »People from England are so stupid«. Eine SMS in aggressiven Großbuchstaben reklamiert das serbische An­recht auf das Kosovo. Beim Konzert von Snoop Dogg ist die Euphorie des Publikums, den legendären Gangster-Rapper leibhaftig zu sehen, mit Händen zu greifen. Immer wieder wird das Sample einer entsicherten Waffe eingespielt, zu dem junge serbische Männer begeistert aufjohlen. Was vor wenigen Jahren noch grauenhafte Kriegsrealität war, kann durch Pop­kultur scheinbar zum Coolness-Code neutra­lisiert werden.

»Die jungen Leute in Serbien waren nach dem Ende des Milosevic-Regimes so hungrig auf Veränderung. Das Festival hat wie ein Katalysator funktioniert. Was gab es hier denn schon vorher? Die Festung war total heruntergekommen, in der ganzen Stadt gab es nur ein Hotel«, sieht Paxton in eigener Sache großzügig über Fakten hinweg. »Wir kurbeln die Wirtschaft an und machen Novi Sad durch Exit in der ganzen Welt bekannt!« Und das in nur vier Tagen im Jahr, in denen beduselte Festival-Touristen Berge von Müll in der ganzen Stadt verteilen. »Jeder will von diesen vier Tagen profitieren«, resümiert der Besucher eines Innenstadt-Cafés – ob das nun die bettelnden Roma, Taxifahrer oder die Kleinstunternehmer sind. Überall am Straßenrand stehen improvisierte Stände mit Getränken, Sandwiches und großen Kochtöpfen voller Maiskolben. Im Morgengrauen des letzten Festivaltags verschenkt ein junger Mann nicht verkaufte Sendvièi an die müde zu ihren Zelten stapfenden Festivalheimkehrer. Damit ist jetzt kein Geschäft mehr zu machen – bis zum nächsten Jahr.

Das Exit-Festival ist die größte Musikveranstaltung Südosteuropas und findet vom 12. bis 15. Juli in der alten Festung Petrovaradin in Novi Sad in Serbien statt. Das anfangs von Studenten gegen das Milosevic-Regime initiierte Projekt findet mitt­ler­weile zum siebten Mal statt und wird von über 60 000 Menschen aus ganz Europa besucht.