Barbaren mit Bahnverbindung

In dem polnischen Dorf Izbica, einer Station auf dem Weg in die Vernichtungslager, errichteten die Nationalsozialisten ein Gestapo-Gefängnis aus jüdischen Grabsteinen. Ein Dokumentarfilm zeigt die vergessene Geschichte bis zur Gegenwart. von kerstin eschrich

Die Briefe trugen den Poststempel des polnischen Dorfes Izbica. Sie waren Lebenszeichen von deportierten Juden an ihre Verwandten zu Hause. Izbica, ein ehemaliges jüdisches Schtetl mit 6 000 Einwohnern etwa 60 Kilometer südlich von Lub­lin, lag »verkehrsgünstig« an der Bahnstrecke zu den deutschen Vernichtungslagern in Polen. Daher errichteten die Nationalsozialisten dort ein so genanntes Durchgangsghetto, das größte im Distrikt Lublin. Juden aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei wur­den neben polnischen Juden über Izbica in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor gebracht.

Aus Izbica »durften« sie beruhigende Briefe an ihre Verwandten schreiben. Zwischen März und Mai 1942 deportierten die Nationalsozialisten zwischen 11 000 und 15 000 europäische Juden in das Dorf. Viele Menschen starben in Enge und Überfüllung an Seuchen und Hunger.

Der Dokumentarfilm »Izbica – Drehkreuz des Todes« zeigt die vergessene Geschichte des Dorfes unter deutscher Herrschaft, bleibt dabei aber nicht stehen, sondern verfolgt die Schicksale einiger Bewohner und den Umgang mit den Resten des jüdischen Lebens nach 1945 in Polen.

Die Regisseure Wolfgang Schoen und Frank Gutermuth waren bei Recherchen zu einer Film­reihe über die Gestapo auf Izbica gestoßen. Früher hatten dort 6 000 Menschen gelebt, 80 Prozent waren Juden. Heute lebt kein ein­ziger Jude mehr in dem Ort. Fast alle wurden von den Nationalsozialisten ermordet.

Wie die Familie von Thomas Blatt, der heute in den USA wohnt, oder die Verwandten von Grzegorz Pawlowski, der als katholischer Priester in Israel lebt. Geboren als Jude mit dem Namen Jacub Hersz Griner, wurde er von Polen mittels eines katholischen Taufscheins gerettet. Er behielt den katholischen Glauben bei und wurde Priester. Dennoch ist sein größter Wunsch, auf dem jüdischen Friedhof in Izbica neben seiner Mutter begraben zu werden.

Von dem ist allerdings nicht mehr viel übrig. Halina Blaszczyk, die als junges Mädchen Juden in Izbica geholfen hat, berichtet in der Dokumentation: »Der Gestapomann Engels, den wir im Ort auch ›den bedrohlichen Iwan‹ nannten, nahm Juden, befahl ihnen, alle Grabsteine auf dem Friedhof zu demontieren, zu seinem Büro zu bringen, und baute die jüdischen Grabsteine an den Bunker für Gefangene an.«

Der polnische Oberrabbiner Michael Schudrich bringt den ungeheuerlichen Vorgang auf den Punkt: Er kenne keinen anderen Fall, in dem die Gestapo einen jüdischen Friedhof schändete und dann aus den jüdischen Grabsteinen ein Gefäng­nis baute. Mit einer Toilette. »Das ist das beste Beispiel, das mir einfällt, für die Entmenschlichung. Ohne Achtung, diese Herabwürdigung der Kultur und Religion anderer Menschen«, sagt Schudrich.

Ein Bewohner des Dorfes hatte die Filmemacher auf den barbarischen Vorgang aufmerksam gemacht. Gutermuth berichtet, dass es in Izbica immer wieder Gerüchte darüber gegeben habe, dass das Gefängnis mit jüdischen Grabsteinen errichtet worden sei. »Aber niemand hatte sich bislang darum gekümmert«, sagt der Regisseur im Gespräch mit der Jungle World. Nach 1945 wurde das Gestapo-Gefängnis von der polnischen Po­lizei genutzt. Im Film befragt, kann der Bürgermeister des Ortes nur erwidern, dass er von den Gerüchten erst vor zwei, drei Jahren gehört habe.

Der Archivar des jüdischen historischen Museums in Warschau, Jan Jagielski, sagt darauf, dass es keine Geldfrage sei, wie mit dem jüdischen Erbe umgegangen werde, sondern eine Frage von Erziehung und Bildung. In Polen geistere noch viel zu oft herum, dass »die Juden nicht zu uns gehören«.

Den Filmemachern ist es gelungen, den Abbau der Grabsteine an dem ehemaligen Gestapo-Gefängnis in die Wege zu leiten. Sie dokumentieren, wie die Steine behutsam abgetragen und feierlich auf den jüdischen Friedhof zurückgeführt wurden.

In ihrem sehr einfühlsamen und informativen Film legen sie Wert darauf, Menschen, die in Izbica geboren wurden, ausführlich zu Wort kommen zu lassen. An ihren Geschichten ziehen sie die Dramaturgie des Dokumentarfilms auf, sie begleiten sie zurück in den alten Lebens­ort und verfolgen behutsam die Entwicklungen der vergangenen Jahre. Aber auch die der letzten Monate, in denen sie selber die Vorgänge in Izbica beeinflusst haben.

Izbica – Drehkreuz des Todes. 14. August, 22.45 Uhr, ARD