»Die Hamas ist praktisch an kein Gesetz gebunden«

Naila Ayesh

Naila Ayesh ist Leiterin des Women’s Affair Center (www.wac.org.ps) in Gaza-Stadt, der einzigen Nichtregierungsorganisation dort, die sich für die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frauen einsetzt. Noch im vergangenen Jahr appellierte die säkulare Feministin an alle Frauen, sich gemeinsam für den Kampf um politische und soziale Gleichheit zu engagieren. Gleichzeitig gestand sie ein, dass säkulare Gruppen nicht mit der Hamas konkurrieren könnten, wenn es um die Organisation von Frauen geht. interview: jonny weckerle

Was sind die Ziele und Aktivitäten Ihres Frauenzentrums in Gaza-Stadt?

Das WAC wurde 1991 mit dem Ziel gegründet, die Frauen im Gaza-Streifen zu stärken. Wir geben eine vierteljährlich erscheinende Frauenzeitschrift heraus und führen Studien zu verschiedenen sozialen, ökonomischen und politischen Themen durch. Wir versuchen, Frauen Fähigkeiten zu vermitteln, damit sie für sich selbst sprechen können und in der Lage sind, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Wir ermutigen sie, wählen zu gehen, und bieten journalistische Ausbildungen an. Wir zeigen ihnen, wie sie kleine Geschäfte eröffnen können, damit sie finanziell unabhängiger werden und dadurch ihr Mitspracherecht innerhalb der Familie gestärkt wird. Zudem lernen Frauen bei uns den Umgang mit Videotechnik, damit sie Dokumentationen über Probleme wie häusliche Gewalt oder Frühverheiratung produzieren können. In unserem letzten Film stellen Frauen die schmerzhaften Auswirkungen dar, die die Kämpfe zwischen Hamas und Fatah für sie hatten.

Auf welche Weise waren Frauen von diesen Kämpfen betroffen?

Obwohl die ganze Gesellschaft direkt oder indirekt unter den Kämpfen und deren Folgen zu leiden hatte, waren Frauen wie immer stärker betroffen. Viele Frauen fühlen sich nicht mehr sicher, wurden Zeuginnen von Gewalt und leiden an den psychologischen Folgen. Die Getöteten waren oft Ehemänner, Väter oder Brüder, und in Gaza sind die Familien groß, so dass ein getöteter Ehemann eine Witwe mit fünf oder sechs Kindern zurücklässt. Mit drei Sonderprojekten versucht das WAC, diese Familien zu unterstützen.

Zum ersten Mal haben wir Angst, über die Geschehnisse in Gaza zu berichten. Journalisten und Menschenrechtsorganisationen wurden angegriffen. Alles ist unter der Kontrolle der Hamas. Wenn es eine Pressekonferenz gibt und die Hamas mit dem Gesagten nicht zufrieden ist, beschlagnahmt sie kurzerhand die Aufzeichnungen.

In Gaza gibt es verschiedene politische Bewegungen. Trotz aller Differenzen zwischen Palästinensern dachten wir, es würde nie zum Blutvergießen kommen. Doch nun sind alle schockiert und eingeschüchtert von den Verbrechen, die während der Zusammenstöße zwischen Fatah und Hamas begangen wurden.

Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass es das Ziel der PLO war, die palästinensische Gesellschaft zu vereinen und einen gemeinsamen Staat in Gaza, der Westbank und Jerusalem zu errichten. Durch die Abspaltung von Gaza hat es die Hamas Israel nun leichter gemacht, die Trennung der Gebiete voranzutreiben und den Weg zu einem palästinensischen Staat zu blockieren.

Wie unterscheidet sich die Situation für Frauen in Gaza von der Situation in der Westbank?

Gaza ist wie ein großes Gefängnis, traditioneller und geschlossener als die Westbank. Die Grenzen sind geschlossen. Ohne israelische Genehmigung kann man nicht in die Westbank fahren. Die Westbank ist offener, es kommen mehr Ausländer dorthin, man kann jederzeit die Grenze nach Jordanien überqueren. Die Siedlungen, die Checkpoints und die Mauer dort sind zwar große Probleme, aber dennoch ist die Lage in Gaza schwieriger. Der internationale Boykott seit dem Wahlsieg der Hamas wirkt wie eine Kollektivstrafe und trifft die Hamas kaum. Im Gegenteil. Sie kann weiterkämpfen und gelangt trotz Boykott an Geld. Ich bin in der Westbank geboren, lebe aber seit 20 Jahren in Gaza. Ich fühle mich hier nicht mehr sicher. Und dieses Mal nicht nur wegen der Israelis, sondern wegen dem, was in Gaza passiert. Ich möchte in einer demokratischen Gesellschaft leben, und meine Kinder sollen eine gute Zukunft haben. Aber hier gibt es keine Zukunft. Tausende von Schülerinnen oder Studentinnen machen gerade ihren Abschluss, ohne woanders weiterstudieren oder arbeiten zu können. Sie stecken in Gaza fest.

Was hat sich für Frauen nach der Machtübernahme durch die Hamas geändert?

Offiziell gibt es zwar keine Anweisung, das Kopftuch zu tragen, aber praktisch ist die Forderung, die Regeln der Sharia einzuhalten, direkt mit dem Kopftuch-Zwang verbunden. Die meisten Frauen haben inzwischen Angst vor Übergriffen, wenn sie das Kopftuch nicht tragen. Manchmal sieht man Frauen, die ihren Kopf nicht bedecken, und ich bin eine davon, aber ich fühle mich dabei nicht wohl. Ich höre Kommentare auf der Straße, manchmal auch von anderen Frauen. Das alles geschieht ganz ohne offizielle Anweisung der Hamas.

Viele Übergriffe auf Frauen oder auf »unislamische« Geschäfte wurden nicht von der Hamas, sondern von kleinen und anscheinend noch radikaleren islamistischen Gruppen begangen. Gibt es einen Konflikt zwischen diesen Gruppen und der Hamas, oder haben sie im Wesentlichen die gleiche Agenda?

Meiner Meinung nach sind alle diese Gruppen mit der Hamas verbunden und werden von ihr kontrolliert, auch wenn sie vielleicht noch radikaler sind.

Dienen die weiblichen Abgeordneten und Funktionärinnen der Hamas, ihre Forderungen nach Bildung für Frauen nur dem Zweck, die Frauen für die islamistischen Gesellschaftsvorstellungen zu gewinnen?

Die Hamas ist nicht dasselbe wie die Taliban. Aber ihre Ideologie hat zum Ziel, die Sharia einzuführen. Was wir derzeit erleben, ist vielleicht nur der erste Schritt. Die Situation ist sehr gefährlich, die Hamas ist an der Macht und praktisch an kein Gesetz gebunden.

Teil des Problems ist es, dass die Hamas Moscheen zur Verbreitung ihrer Ideologie benutzt. Moscheen dienen ihr nicht nur als Gebetsstätten. Sie versuchen, auch Frauen und Kinder zu erreichen, indem sie soziale Programme anbieten. Ich erinnere mich an den ersten Freitag nach der Machtübernahme, als in den Moscheen verkündet wurde, dass nun die Zeit für die Sharia gekommen sei, und Frauen aufgefordert wurden, sich zu bedecken.

Früher sprachen Sie sich für den gemeinsamen Kampf von säkularen und islamischen Frauen gegen die israelische Besatzung aus, und der Kampf um nationale Befreiung sollte mit dem Kampf gegen andere Unterdrückungs­verhältnisse verbunden werden. Nach dem Rückzug der Israelis haben sich die islamischen Kräfte gegen die Säkularen gewandt, und die Gesellschaft wird immer repressiver.

Nun ist es anders. Offiziell wird zwar nicht der Krieg gegen die säkularen Kräfte ausgesprochen, aber man bemerkt, wie sich der Alltag verändert. Wie ich schon beschrieben habe, schlägt einem Feindschaft entgegen, wenn man als Frau ohne bedeckten Kopf durch die Straßen läuft.

Sehen Sie sich und die Zukunft des WAC bedroht?

Wir versuchen, in aller Stille unsere Arbeit fortzusetzen, aber es ist nicht einfach. Vieles von dem, was wir von Frauen hören und dokumentieren, können wir nicht veröffentlichen, weil das zu gefährlich wäre. Wir wollen nicht, dass die Hamas unser Zentrum angreift, und sind nun ruhiger und vorsichtiger als zuvor.