Seilschaften im Schnee

Bei einem Bergunfall in der Schweiz starben sechs Soldaten. Die Armeeführung weist jede Verantwortung von sich. von martin krauß

Sechs Schweizer Rekruten, alle im Alter von 19 bis 23 Jahren, stürzten Mitte Juli dieses Jahres beim Aufstieg auf den Gipfel der Jungfrau (4 158 Meter) in den Berner Alpen ab und kamen zu Tode. Als normalen Bergunfall stellt es die Schweizer Armee dar. Doch normal war an der Aktion, die zu dem Unfall führte, gar nichts. Am Mittwochabend, dem 11. Juli, war das Wetter miserabel: starker Wind, 60 Zentimeter Neuschnee, zum Teil zwei Meter hohe Schneeverwehungen. In der Mönchsjochhütte in 3 650 Metern Höhe saß eine 24köpfige Gruppe der Armee, allesamt Mitglieder der als Eliteausbildungsstätte geltenden Gebirgsrekrutenschule Andermatt, und diskutierte über die Pläne für den kommenden Tag; die Soldaten wollten auf den Berg namens »Jungfrau« steigen. Zivile Bergführer, die am Nebentisch saßen, bekamen die Diskussion der Soldaten mit und warnten sie. »Ich wäre nie und nimmer auf die Jungfrau«, berichtete Bergführer Harry Sonderegger später der NZZ am Sonntag. »Es herrschte bis zum Mittwochabend tiefer Winter. Es gab meterhohe Schneeverfrachtungen. Die Schneebrettgefahr war groß.« Auch andere Bergführer warnten die Soldaten. »Ich bin nicht befugt, ein Urteil zu fällen«, sagte Bergführer Hano Schabold, der ursprünglich für den Donnerstag auch eine Besteigung des Berges geplant hatte, »aber für mich war klar, man geht nicht.« Ein Bergführer, dessen Bruder zur Armeegruppe gehörte, verbot diesem die Teilnahme an der Militärexpedition. Die Warnungen der Bergführer zeigten nur zum Teil Wirkung. Ein Vorgesetzter entschied, nicht aufzusteigen: Sechs Rekruten und er kletterten am Mönch (4 107 Meter), der am Donnerstag nicht lawinengefährdet war. Weitere Soldaten meldeten sich krank. Aber zwölf Rekruten und zwei Vorgesetzte zogen am Morgen in Richtung Jungfrau los. Etwa 150 Meter unter dem Gipfel stürzten zwei Dreierseilschaften mehrere hundert Meter tief ab. Etwa 1 000 Meter unter der Absturzstelle wurden ihre Leichen später geborgen. Die Vorgesetzten, beide Armeebergführer, und sechs Rekruten wurden gerettet. »Allein die Natur oder allenfalls menschliche Unzulänglichkeit« machte Verteidigungsminister Samuel Schmid als Ursache aus. Der Kommandant der Gebirgsspezialisten, Andreas Bardill, dessen Soldaten ja zu Tode gekommen waren, meldete sich in der Zeitung Der Bund zu Wort. Es habe schon schwerere Unfälle im Gebirge gegeben, im Ersten Weltkrieg seien »ganze Kompanien von Schneemassen verschluckt« worden. Und Fred Heer, der stellvertretende Kom­mandant des Heeres, meinte, es sei »ein tragischer Bergunfall, wie er im zivilen Umfeld auch passieren könnte«. Doch an diesem Tag, bei diesem Wetter, war kein Bergsteiger aus dem »zivilen Umfeld« auf der Jungfrau. Als die Armee unter öffentlichen Druck geriet, präsentierte sie eine neue Version. Die Rekruten könnten auch »ohne direkte Einwirkung des Schneebretts« gestürzt sein. »Gemäß Aussagen der Bergführer ist die obere Seilschaft in die untere hineingerutscht«, sagte der Sprecher der Armeejustiz, Martin Immenhauser, der Berner Zeitung. Gestützt wurde die neue These von einem Überlebenden, einem Rekruten*, den die Armee auf einer Pressekonferenz präsentierte. Die neue These entlastet die Armee: Der Unfall hätte nichts mehr mit dem Wetter und der fragwürdigen Entscheidung loszumarschieren zu tun. »Es ist abenteuerlich zu glauben, dass alle 14 Soldaten gleichzeitig umgefallen sein sollen ohne Einwirkungen der Lawine«, empörte sich der international anerkannte Lawinenexperte Werner Munter im Tagesanzeiger. Und Peter Bodenmann, ehemaliger Chef der Sozialdemokratischen Partei, kommentierte in der Weltwoche: »Schuld sind diesmal die Toten.« Bodenmann hatte auch eine Erklärung parat, warum die Tragödie bislang noch nicht die eigentlich gebotene politische Brisanz erhalten hatte: Verteidigungsminister Samuel Schmid gehört nämlich zur rechtspopulistischen SVP, steht aber deren verrufenem Parteichef Christoph Blocher eher distanziert gegenüber. »Deshalb steht der Berner für alle anderen Parteien unter Heimatschutz.« Mittlerweile regt sich aber doch Kritik. Nicht in der Politik, aber in der Presse. Die NZZ am Sonntag empört sich: »Die Armeevertreter verschwiegen banalste Fakten zum Geschehen in der Berghütte, stellten den Unfallbeteiligten mit markigen Worten Persilscheine aus, rügten andernorts Vorverurteilungen und erzeugten insgesamt den Eindruck von Korpsgeist und Wagenburg.« Auch Felix Birchler von der »Gruppe Schweiz Ohne Armee« hält das Verhalten der Armee nach dem Unfall für das eigentliche Problem. »Die Militärjustiz will den ganzen Fall unter sich regeln«, sagt er. »Dass die dann nicht unabhängig untersuchen werden, ist doch offensichtlich.« Das Militär versucht derweil, Zeit zu gewinnen. Man könne noch nicht sagen, »ob das Schneebrett für den Unfall kausal – als die direkte Ursache – war«, heißt es in einer Pressemitteilung von Ende Juli. Martin Immenberger verwies im Gespräch mit der Jungle World auf eine Expertise des Schweizerischen Lawinenforschungsinstituts. »Wir rechnen damit, dass diese in der ersten Septemberhälfte bei uns eintreffen wird.« Was die Armee solange aus der Katastrophe zu lernen gedenkt, teilte Pressesprecherin Kirsten Hammerich mit: »Jeder Soldat hat für den Notfall die Telefonnummer des Armee-Seelsorgers dabei.«

 

*Name der Redaktion bekannt