Wie man’s sieht

Wenn Deutsche in den Urlaub fahren: jürgen kiontke entdeckt in dem psychologischen Drama »Fata Morgana« die Möglichkeiten der Rezeptionsschulung

Sie haben mich umgedreht. In jahrelanger Kleinarbeit. Filmkritiker, Jury-Kollegen, Regisseure. Früher dachte ich, Filme müssten unterhaltsam, ungewöhnlich und aufregend sein. Das habe ich mir abgeschminkt. Ein Glück. Jetzt gehe ich viel entspannter ins Kino. Mir geht’s jetzt wirklich besser.

95 Prozent der gesamten Weltfilmproduktion ist öde, daneben, völlig irre und völlig irrelevant, das wusste ich vorher schon. Aber aufgrund meiner falschen Einstellung rutschte ich in den Vorführungen ungeduldig auf dem Sessel herum und dachte: Vielleicht geschieht ja doch noch etwas. Meistens passierte aber gar nichts. Das Mainstreamkino war voller reaktionärer Ge­wöhn­lichkeit. Das Trashkino voller übergeschnappter Einfältigkeit. Das Arthousekino von unglaublicher Langeweile. Da musste ich mir ohnehin etwas einfallen lassen, um all das besser durchzuhalten.

Den Anfang meiner Umpolung machte der Filmkritiker Dietrich Kuhlbrodt. Ihn fand ich hervorragend. Er schrieb Jubelkritiken über Filme, die ich grundsätzlich unmöglich fand. Da habe ich mich schon gefragt: Wie kann es sein, dass der Mann so nett ist und gleichzeitig so einen komischen Geschmack hat? Na gut, immer­hin war er ohne Musikvideos und Happy-Slapping-Kino groß geworden.

Einen weiteren Beitrag zur Bildung meiner Rezeption lieferte Kuhlbrodts Namensvetter Detlef, ebenfalls Autor: »Zur Berlinale gehe ich gern, weil da Filme aus Ländern laufen, die ich voraussichtlich nie besuchen werde. Also verreise ich im Kino.« Dieses Jahr setzte er noch einen drauf: »Das Kino hat noch einen weiteren Vorteil: Es regnet dort nie.«

Entscheidend war dann die Diskussion mit einem Filmkritiker aus Rio de Janeiro während einer Preisvergabe auf einem Filmfest. Dem Film, den ich preiswürdig fand, konnte er nichts abgewinnen. »Tolle Schauspieler, super Regisseurin, schöne Bilder, klasse Musik«, argumentierte ich. »Ja, ja«, antwortete er. Der Soundtrack sei aber ein Problem: »Musik lenkt doch nur von den Bildern ab.«

Der Mann stand auf Filme wie Thomas Arslans »Ferien«: Nichts passiert, Dialoge gibt es kaum in den kleinen Familienstreitigkeiten. Wahrscheinlich werden vor der Tür des brasilianischen Filmkritikers täglich Leute umgelegt, da findet er ein bisschen Ruhe im Kino völlig okay.

Seitdem halte ich Musik im Film auch für überflüssig. Sie lenkt ab. Sprache braucht eigentlich auch niemand, Dialoge stören die Bilder. Bilder bräuchte genau genommen auch kein Mensch, eine Lampe würde auch reichen, um den Raum zu beleuchten, in dem es nicht regnet. Aber wer es geschafft hat, drei Stunden »Inland Empire« von David Lynch durchzuhalten, ahnt schon: Licht braucht man eigentlich auch nicht. So. Kino ist ein dunkler, trockener Raum. Alles, was darüber hinausgeht, kann man als Sensation betrachten.

Diese neuen Erkenntnisse haben mir bei der Sichtung des Films »Fata Morgana« von Simon Groß enorm geholfen. Ein Film über die Wüste, eine unklare Handlung – da bin ich richtig. Ein mehr oder weniger nichtsnutziges Pärchen, Typ »Reiche Eltern plus Sechs-Zimmer-Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg«, feiert das Jura-Examen mit einer Reise nach Marokko. Um den Ferienalltag ein bisschen aufzufrischen, beschließen Daniel (Matthias Schweig­höfer) und Laura (Marie Zielcke), noch einen Tagestrip in die Wüste zu unternehmen. Natürlich verfahren sie sich und bleiben in den Sandhügeln stecken. »Fata Morgana« liegt also ganz im Trend des neuen deutschen Kinos: Wie schon in Arslans Film schlagen die Ferien unsereinem schwer aufs Gemüt. Weil einfach so wenig passiert, dass die Kamera nicht mehr weiß, was sie filmen soll.

Damit etwas Leben in den Plot kommt, lässt Groß einen schweigsamen Mopedfahrer und ehemaligen Fremdenlegionär (Jean Hugues Anglade) auftauchen – er steht für das Fremde und Verruchte. Oder besser Verrauchte: Im Gegensatz zu den Urlaubern dreht er unablässig Zigaretten. Er verspricht, wenn bei seinem Gemurmel überhaupt etwas zu verstehen ist, die beiden zum Hotel zurückzubringen. Aber statt Antworten auf drängende Fragen – »Wie weit is’n noch?« – zu geben, bläst er ihnen eher mehr als weniger Rauch ins Gesicht.

Das ist wirklich wild. Eigentlich hat er versprochen, sie wieder auf die rettende Straße zu bringen. Doch er tut das Gegenteil. Er lotst die beiden kreuz und quer durch die Sahara, kinostundenlang. Ich verrate es nicht gern: Aber spätestens als sich Marie aus ungeklärten, aber garantiert auf animalischen Trieben beruhenden Gründen für den Biker zu interessieren beginnt und dann – man staune – auf dem Motorrad mitfährt statt im Jeep, hängt Daniel der ganze Trip aus dem Hals raus wie jedem ordent­lichen deutschen Jeep-Fahrer auf der Autobahn die bekloppten Zweiradartisten. Und dann gibt’s was auf die Nase. Richtig! Der deutsche Newcomer Schweighöfer schlägt dem französischen Altstar den fetten Schädel ein! Wenn das nicht ein kinopolitisches Großereignis ist!

Bis es soweit ist, haben wir es nach der Aussage des Regisseurs bei seinem ersten Film mit einem komplizierten, psychologischen Spiel zu tun. Ja. Wie in Albert Camus’ »Der Fremde«, mit dem dieser Film erstaunliche Gemeinsamkeiten hat. Der Mord geschieht in »Fata Morgana« eher aus Zufall. Damit überhaupt noch mal etwas geschieht. Ansonsten ist die Wüste schön, die Musik hält sich in Grenzen, und die Dialoge sind ganz klar eine Konzession an den Tonfilm.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Das ist definitiv kein Plädoyer, sich »Fata Morgana« zu ersparen, im Gegenteil: In der Wirkung solcher Filme sollte man sich nicht täuschen. Warum?

Als Antwort möchte ich aus einem Bericht über eine Mannheimer Sneak-Preview zitieren: »Ein entsetzter Schrei … Der junge Mann, der bis eben noch auf eine gelbe Comicfamilie gehofft hatte, weiß nun, dass er sich den Film ›Fata Morgana‹ noch einmal anschauen darf (er hatte ihn bereits in einem anderen Kino gesehen).«

Weiter heißt es: »Regisseur Simon Groß erhielt immerhin den Förderpreis Deutscher Film in der Kategorie Regie. Davon zeigte sich das Sneakpublikum wenig beeindruckt … So werden die wenigen Gefühlsregungen der Figuren, die sich meist durch Ohrfeigen oder herumfliegende Gegenstände offenbaren, mit hämischem Applaus bedacht.«

Die Zuschauer konnten ihre Bewertung auf eine Karte schreiben und sie in einen Eimer am Ausgang werfen. Es geschah dies: »Ein Zuschauer bastelt eigens aus einem Popcorneimer eine weitere Einwurfmöglichkeit mit fäkaler Aufschrift. Aber noch lange hört man in den Straßen Mannheims amüsierte Kinogäste über ›Fata Morgana‹ lästern. So unterhaltsam kann Kino sein.«

Und wir Rezensenten von Hamburg bis Rio, wir sind absolut begeistert. Und: Geregnet hat es in »Fata Morgana« auch nicht! Und immer häufiger sehe ich den einen oder anderen Kritiker im Kino schlafen.

»Fata Morgana« (Deutschland 2007). R: Simon Groß. Start: 16. August