Die Greise von Gülpinar

Was passiert, wenn ein internationales Kunstfestival in einem anatolischen Dorf stattfindet? sabine küper-büsch war dabei

Als der Kleinbus langsam auf den Schulkomplex zurollt, trauen die Besucher ihren Augen nicht. Nach der Fahrt durch ein halbwegs idyllisches, westanatolisches Dorf will der Betonklotz so gar nicht zu den erwarteten Bildern passen. Im Internetportal der Provinzhauptstadt Canakkale steht über Gülpinar: »Die legendäre Stadt Alexandreia Troas, einst Kandidatin für die Hauptstadt des Römischen Reiches, erstreckte sich vom heutigen Gülpinar bis zur früheren Stadt Troja. Aufgrund der Nähe zur Hauptstraße und der Lage zu der ehemals griechischen Siedlung Assos werden Touristen angezogen.« Von Touristen ist aber weit und breit nichts zu sehen.

Ein großer, amtlicher Wagen mit zwei Fähnchen auf der Kühlerhaube rollt in den mit eisernen Statuen des Staatsgründers Atatürk geschmückten Schulhof. Bürgermeister Ünal Karagöz heißt die 30 Gäste zum ersten Gülpinar-Festival willkommen. Der Speisesaal des Internatstrakts der Schule ist ein riesiger Raum mit einer Großküche. Die Besucher erfahren, dass die »Dorfschule« aus einer Grundschule und einem Gymnasium besteht und alle Kinder aus den umliegenden Dörfern aufnimmt. Während des Schuljahrs beherbergt das dreistöckige Internat zwischen 300 und 500 Kinder.

Am nächsten Morgen erklärt Ece Pazarbasi den Teilnehmern die Struktur und den Sinn des Festivals. Der Verein »Diyalog-der.eu« ist eine kleine, international besetzte Initiative von Kulturschaffenden aus Istanbul aus den Bereichen Kunst, Film, Fotografie und Medien. Gülpinar soll der Ort einer Begegnung zwischen Zentrum und Peripherie sein. Das Festival thematisiert unter dem Titel »Meeting Point« die Kluft zwischen Stadt und Land innerhalb der Türkei und soll den ausländischen Teilnehmern die Möglichkeit geben, ihre Vorstellungen vom »anatolischen Hinterland« mit der Realität zu vergleichen. Aufgeteilt in die Arbeitsgruppen »Video«, »Fotografie« und »Lokale Küche« haben die 20 Teilnehmer Gelegenheit, die Form der Auseinandersetzung selbst auszuwählen. Die Gruppen sind schnell gebildet. Die meisten Teilnehmer fühlen sich im Schutz einer Kamera am sichersten, nur die Amerikanerin Emily und die Slowenin Lea interessieren sich dafür, eine Woche lang mit den Dorffrauen in ihren Häusern zu kochen.

Die ersten Ergebnisse der Videoarbeitsgruppe sprechen nach einem Tag bereits für sich. Die Amerikanerin Julie filmt nach einem Orientierungsspaziergang im Dorf ihr Zimmer im Internatsgebäude als klaustrophobischen Ort. Der deutsche Student Stefan aus Sachsen fühlt sich an ein FDJ-Lager erinnert, entwickelt aber als Bewältigungsstrategie die Filmidee, das Spielverhalten der Dorfkinder zu beobachten. Das ist gar keine einfache Aufgabe, denn Kinder sind in Gülpinar kaum auf der Straße zu sehen. Irritiert sucht die Videogruppe den auch in den Ferien im Schulgebäude residierenden Direktor auf. Behçet Cantürk grinst hinter seinem breiten Schreibtisch, wirft einen elektrischen Wasserkocher an und serviert behende Tee. Natürlich könne er Kinder organisieren, aber die müssten in den Ferien entweder arbeiten oder für die Nachprüfung büffeln, sagt der Mann.

Am nächsten Tag jagen immerhin acht Kinder auf dem Betonpflaster des Schulhofs einem schäbigen Plastikball hinterher. Die Filmer entdecken den Teejungen aus dem Kaffeehaus, den Botenjungen des kleinen Krämerladens und weitere fleißige Kinder, kein Junge ist älter als zwölf. Der freie Nachmittag beginnt erst ab vier Uhr. Nicht wegen der Mittagshitze, sondern weil die Kinder dann bis zur Abendschicht zwei Stunden Pause machen dürfen. Der kleine Kemal lädt die Besucher mit einer vagen Geste, mit der er an seinen Schritt zeigt, einem Lachen und fröhlichen Tanzbewegungen zum Beschneidungsfest seines kleinen Bruders ein, bevor er auf den Rücksitz des von seinem Vater gelenkten Motorrads steigt. Bis zum Abend hat er offensichtlich noch viel zu tun.

Einige Teilnehmer nörgeln über die Toiletten im Internat. Sie seien unzumutbar. Emily, eine Teilnehmerin des Kochkurses, differenziert: In den Häusern funktionierten sie zumindest. Problematisch sei nur, dass keiner der Teilnehmer sich verpflichtet fühle, sie mit Wasser zu überspülen, wie es eigentlich üblich sei. So verschwin­det der Uringeruch während der Woche nur dann aus dem Schulgebäude, wenn einer der türkischen Organisatoren die Grundreinigung übernimmt.

Die von allen Besucherinnen aus dem Ausland befürchtete Geschlechtersegregation, also die strikte Aufteilung in Männer- und Frauenräume, wird nicht aufrechterhalten. Die Festivalteilnehmerinnen können unbehelligt überall ein- und ausgehen und bemerken bald, dass es die Dorffrauen ebenso tun, auch wenn diese gemeinhin den Teegarten direkt nebenan bevorzugen.

Die Koreanerin Isa versucht sich an einem Experiment in einem anderen Männerraum. Sie geht in das Kaffeehaus, setzt sich zu einigen alten Männern an den Tisch und fordert sie auf, eine Zeichnung anzufertigen. Die Aktion wird mit einer Handkamera gefilmt. Die entstehenden Kritzeleien sind künstlerisch nicht sonderlich wertvoll. Das Video zeigt sechs Dorfgreise, die sich rührend bemühen, die Wünsche der jungen Frau zu erfüllen.

Als die Filmemacherin das Video vertont, bleibt ihr nichts anderes, als aus dem Off das eigene Befremden zu schildern. Was in den alten Männern vorgeht, bleibt dem Betrachter verborgen.

Eine Offenbarung für alle ist die Existenz eines Internetcafés in Gülpinar. Ein Teil der scheinbar unsichtbaren Jugendlichen hält sich fast nur dort auf. Da einige ein wenig Englisch sprechen, erfahren die Festivalteilnehmer endlich, wo sich die Jugend von Gülpinar aufhält: außerhalb Gülpinars. Wer kann, flieht im Sommer zu Verwandten an die Küste oder in die Kreisstadt Canakkale.

Nur zwei Teilnehmer trauen sich, an der Beschneidungsparty teilzunehmen. Sie versuchen unermüdlich, aber erfolglos, den anderen klarzumachen, dass die Entfernung der Vorhaut des kleinen Jungen nicht auf der Party, sondern beim Arzt vorgenommen und vor dem Haus der Familie mit Nachbarn wirklich nur gefeiert wird. Zu großen Treffen, zu »Meeting Points«, wie das Motto des Projekts heißt, geraten deshalb eigentlich nur die abendlichen Veranstaltungen des Festivals. Die Dorfbewohner lauschen geduldig einem auf Englisch gehaltenen, dreistündigen Vortrag über alternative Kunsträume in Istanbul. Das spanische Puppentheater »Playground-Company« erhält zwar nur schüchternen Applaus, die Künstler werden jedoch an den folgenden Tagen mit allerlei Nachahmungsversuchen im Dorf belohnt. Kinder und Erwachsene gestikulieren, sobald die Spanier irgendwo auftauchen.

Am letzten Abend werden die Ergebnisse der Arbeitsgruppen im Kaffeehaus präsentiert. Die Teilnehmerinnen des Kochkurses sind ein wenig frustriert. Die türkischen Dorfspezialitäten wecken zwar Appetit, doch da man sie in Gülpinar täglich zuhause isst, bleibt der festliche, sensationelle Effekt aus. Begeistert und verblüfft reagieren die Einwohner des Dorfes auf die Videos. Endlich gibt es etwas Bekanntes zu sehen. Isa, bis zuletzt von allen verstohlen »die Japanerin« gerufen, erntet viele Lacher. Nicht weil sie als Frau im Kaffeehaus sitzt, sondern weil Onkel Ahmet und Onkel Osman so komisch beim Zeichnen aussehen. Julie hat doch noch aus ihrem Raum herausgefunden und ihre Zimmernachbarin beim Dorffriseur gefilmt. Der Friseur Hayri ist der Protagonist mehrerer Videos und am Ende des Abends so betrunken, dass er immer wieder begeistert ruft: »Ich bin!«

Die Rückfahrt nach Istanbul dauert acht Stunden, Gesprächsthema bleibt das Dorf. Niemand hatte gemerkt, dass abends im Kaffeehaus des Dorfes auch Alkohol ausgeschenkt wird. Eine Woche lang hatten sich alle zum Bier in das Internat zurückgezogen. Seltsames Gülpinar.