Ob Ost, ob West …

Nach den Ereignissen in Mügeln wird erneut heftig darüber diskutiert, was die Ursachen rechtsradikaler Übergriffe sind. Die Gewaltstatistiken legen nahe, dass es nicht nur am Osten, an der Arbeitslosigkeit und den Medien liegen kann. von andreas speit

In der Nacht des 23. und 24. August 1992 eskaliert in Rostock-Lichtenhagen die Gewalt. Ungehindert greifen 3 000 »Randalierer« 200 Menschen in der zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim an, in dem über 150 Vietnamesen untergebracht sind.

Rostock, 15 Jahre später: »Presse?« versichert sich der Taxifahrer und schimpft: »Die Rechten sind doch bloß wegen Ihnen hier.« In der Stadt marschieren gerade 300 Rechtsextreme von der NPD und den »Freien Kameradschaften« (FK) auf, um »nationale Solidarität« für den Szeneladen »East Coast Corner« zu zeigen. »Ärger machen die anderen«, meint der Taxifahrer weiter. Dass von Leuten aus dem Laden Passanten angegriffen wurden, wischt er beiseite: Das sei alles übertrieben. »Wegen den Asylanten« hätten die Medien damals auch schon »alles aufgebauscht«. Gut 450 Kilometer entfernt, in Mügeln, hörten Journalisten in den vergangenen Tagen ähnliches: »Sie machen hier die Unruhe, das ist alles Ihre Schuld.«

Seit 15 Jahren wiederholt sich nach rechtsex­tremen Gewalttaten regelmäßig das gleiche Ritual: Die Verantwortung wird zurückgewiesen, Ursachen werden geleugnet. Die Medien oder gar die Ausländer selbst seien schuld, heißt es, Bürgermeister und Kommunalpolitiker sorgen sich nach rechtsextremen Übergriffen vor allem um das Image ihrer Gemeinde. Ein »Negativ-Image« habe Mügeln nicht verdient, betont auch Bürgermeister Gotthard Deuse (FDP) und versichert, dass es »rechtsextreme Gruppen« dort nicht gebe. Im üblichen Reflex erklärt auch die Polizei, in »alle Richtungen« zu ermitteln, aber bisher »keinen rechtsextremen Zusammenhang« erkannt zu haben. Was Angriff und was Notwehr war, fragen Polizei und Medien auch die Gejagten. Ganz so, als ob möglicherweise vorangegangene Auseinandersetzungen die brutalen Angriffe eines Mobs rechtfertigen könnten.

Bereits bis Juni 2007 sind im gesamten Bundesgebiet 5 321 rechte Fälle registriert worden, 324 Menschen wurden durch rechte Gewalt verletzt. Rechtsradikale Übergriffe sind jedoch kein Phänomen, das auf Ostdeutschland beschränkt ist. Die meisten Gewalttaten wurden in Nieder­sachsen (58) verübt, danach folgen Sachsen (39), Nordrhein-Westfalen (36), Berlin (34), Brandenburg (33) und Mecklenburg-Vorpommern (23).

Guntersblum bei Mainz, in der Nacht von Mügeln: Während die Übergriffe von Mügeln weltweit Schlagzeilen machten, blieb ein Angriff auf zwei Afrikaner weitgehend unbeachtet. In der Nacht von Mügeln verletzten in Guntersblum bei einem Weinfest Täter aus einer sechsköpfigen Gruppe einen Sudanesen schwer am Kopf, ein Ägypter erlitt Schnittwunden. »Wir machen die Neger platt«, sollen die Täter nach Angaben des zuständigen Oberstaatsanwalts gerufen haben.

Auch im nördlichsten Bundesland nehmen die Aktivitäten der Szene zwischen NPD und FK in den vergangenen Jahren immer weiter zu. Anfang 2007 räumt Innenminister Ralf Stegner (SPD) ein, dass »in vielen Orten Schleswig-Holsteins die Rechten frecher auftreten«. Wie bereits 2005 liegt das Bundesland auf dem fünften Platz der offiziellen rechten Gewaltstatistik 2006 – zwischen Thüringen und Sachsen. Die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten hat sich dennoch »deutlich erhöht« – von 337 im Jahr 2005 auf 510 im Jahr 2006. Auch im Westen ist politische Zurückhaltung bei der Bewertung rechts­extremer Gewalt nichts Neues.

Brinjahe, in der Nacht zum 16. Juli: Nahe dem »Freudenberger Waldfest« finden Besucher einen verletzten 17jährigen. Im Krankenhaus stirbt der Junge an schweren Kopfverletzungen, verursacht durch eine Eisenstange. Die Kieler Polizei beschränkt sich auf den Hinweis, dass der Junge mit einem Soldaten unter Alkohol in Streit geriet und dass der Täter »polizeilich mehrfach in Erscheinung getreten« sei. Die Medien melden den Vorfall ohne politische Verdachtsmomente. Über den politischen Hintergrund der Tat berichtet die Schleswig Holsteiner Antifa-Initiative und erklärt in einer Pressemitteilung, der 17jährige Junge sei für kurze Zeit Mitglied der rechten Szene gewesen, dann ausgestiegen und von seinen ehemaligen Weggefährten auf dem Fest deswegen angegangen worden. Mit dabei sei der Bundeswehrsoldat Sebastian K. gewesen, ein bekannter Rechtsradikaler aus dem Kreis Rendsburg-Eckernförde.

»Ich weiß nicht, was noch passieren muss, damit in diesem Land der Eindruck entsteht, wir haben ein Problem«, sagt Uwe-Karsten Heye, ehemaliger Regierungssprecher unter Rot-Grün und Vorsitzender des Vereins »Gesicht zeigen – ­Aktion weltoffenes Deutschland«; er warnt davor, dieses »Problem« bloß als »Ostproblem« zu betrachten. Die Verantwortlichen vor Ort, so Heye, würden immer nach dem gleichen Muster »das rechtsradikale Potenzial« klein reden. »Diese Art von Wegsehen« sei das, »was doch so erschreckt«, sagt er dem Deutschlandradio und erinnert daran, dass 2006 die Behörden bundesweit einen Rekord bei »kriminellen Delikten mit rechtsradikalem Hintergrund« registrierten.

Seit 2001 haben die Behören des Inneren ein neues Meldesystem für rechte Straf­taten. Eine Straftat wird hiernach als »politisch motivierte Kriminalität – rechts –« eingestuft, wenn die Tat nicht alleine dem Opfer persönlich gilt, sondern auch aufgrund seiner Gruppenzugehörigkeit erfolgt. Für das Jahr 2006 zählte das Bundesministerium des Inneren 18 100 rechtsextreme und fremdenfeindliche Straftaten, davon fast 1 000 Gewalttaten. In Sachsen-Anhalt, das die rechte Gewaltstatistik anführt, haben sich seit 2002 die Straftaten fast verdoppelt. Von einzelnen »regionalen Schwerpunkten« dort möchte Martina Nees von der »Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt« nicht sprechen. »Wir müssen von einem Flächenproblem reden«, hebt sie hervor. Alleine für das erste Halbjahr 2007 registrierte die »Mobile Beratung« in Sachsen-Anhalt 72 rechte Gewalttaten. Zwar ist diese Zahl kleiner als im Vorjahreszeitraum, aber die Zahl der Betroffenen stieg auf 133 Menschen.

Wo regionale Schwerpunkte rechtsextremer Gewalt sind, führt auf Nachfragen weder das Bundeskriminalamt noch das Bundesministerium des Inneren aus. Sie verweisen aufeinander und auf die untergeordneten Kriminalämter, die die Fälle melden.

Auch die Bemühungen der NPD, sich zu »verbürgerlichen«, scheint die Gewaltbereitschaft in der rechten Szene wenig einzudämmen, schließlich sitzen auch in den Parteivorständen verurteilte Gewaltverbrecher. So legt die Gewaltstatistik 2006 einen Zusammenhang zwischen verstärktem Auftreten, gewachsenem Selbstbewusstsein und steigender Gewalttätigkeit nahe. In Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, wo die NPD im Landtag ist, wuchs die Zahl der Straftaten stark – von 62 auf 103 in Mecklenburg-Vorpommern und von 168 auf 208 in Sachsen.

Ein weiterer populärer Erklärungsversuch für den Anstieg rechtsextremer Gewalt ist die Per­spektivlosigkeit. Das Bundesfamilienministerium erklärt anlässlich Mügelns, Arbeitslosigkeit, fehlende Jugendarbeit und nicht entwickelte zivilgesellschaftliche Traditionen führten zu dieser Gewalt. Der Berufs- und Ausbildungsstatus von »fremdenfeindlichen Tatverdächtigen« ist aber nach Bundes- wie Landesstudien differenzierter. Es wurde ein Trend ausgemacht, demzufolge knapp 29 Prozent der aktenkundigen Täter im Voll- oder Teilerwerb, etwa 26 Prozent arbeits­los waren. Über 30 Prozent gingen zur Schule, und rund 15 Prozent hatten einen Ausbildungsplatz. Circa 90 Prozent der Täter waren männliche Jugendliche und junge Erwachsene. Seit Anfang der neunziger Jahre zeigen Untersuchungen der Polizei: Bis zur ersten Tat sind die Täter unauffällige Mitschüler oder Nachbarsjungen.