Pädagogik der runden Ecken

Kleine Klassen, kein Notendruck und eine motivierte Lehrerschaft – Waldorfschulen stehen in dem Ruf, Schüler individuell fördern zu können. Doch die verkappten Religionsschulen verfolgen bis heute die Idee der Antimoderne. Von Peter Bierl

Das deutsche Bundesfamilienministerium hat bei der Bundesprüfstelle beantragt, zwei Bücher von Rudolf Steiner, dem Gründer der Anthroposophie und der Waldorfschulen, wegen rassistischer Inhalte in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufzunehmen. Die Bundesprüfstelle will darüber im September entscheiden. Der Wissenschaftler Helmut Zander von der Humboldt-Universität in Berlin hat ein zweibändiges Werk vorgelegt, in dem er detailliert die »Geistesschau« Steiners zerpflückt und belegt, von wem der Guru abgeschrieben hat. In Kempten im Allgäu hat das Landgericht einen Waldorflehrer wegen Körperverletzung im Amt in drei Fällen zu einer Geldstrafe von 8 800 Euro verurteilt. Auch wenn die dortige Waldorfschule nicht dem Bund der Waldorfschulen angehört, arbeitet sie dennoch auf Grundlage der Anthroposophie. Andreas Molau, Mitarbeiter des NPD-Vorsitzenden Udo Voigt, plant im brandenburgischen Rauen, im Landkreis Oder-Spree, eine Waldorfschule einzurichten, wogegen der Bund der Freien Waldorfschulen in Deutschland, der auf das Namensrecht pocht, bereits Widerstand angekündigt hat. Molau war jahrelang Lehrer an der Waldorfschule in Braunschweig, bis er im Herbst 2004 kündigte, weil er angeblich für die neue NPD-Fraktion im sächsischen Landtag und die NPD-Zeitschrift Deutsche Stimme arbeiten wollte. Daraufhin entließ die Waldorfschule ihn und erteilte ihm Hausverbot.

Damit liefern die Waldorfschulen derzeit negative Schlagzeilen, üblich ist in der Presse eine positive, unkritische Berichterstattung. Dabei sind das gute Image, das diese Schulart genießt, und die laxe Haltung der Behörden eigentlich verwunderlich. Denn wer sich etwas mit der Waldorfpädagogik befasst, kann nicht deren obskure Basis übersehen, die Anthroposophie als okkulte Weltanschauung, die der Hellseher Steiner aus Versatzstücken des Buddhismus, des Hinduismus, des Christentums und zeitgenössischer europäischer Evolutions- und Rasselehren zusammengeschustert hat. Dazu genügt die Lektüre einiger Werke Steiners und einiger Ausgaben der Zeitschrift Erziehungs­kunst, die der Waldorfschulbund herausgibt.

Comics und Legosteine, Fußball, Sexualkunde und Linkshändigkeit sind verpönt, Kinder müssen mit merkwürdigen Betonungen Reime und Gedichte aufsagen, was Mantraübungen entspricht. Es gibt keine richtigen Schulbücher, die Kinder müssen den Stoff von der Tafel abschreiben. 1998 gab die Pädagogische Forschungsstelle des Waldorfbundes eine Broschüre mit dem Titel »Literaturangaben für die Arbeit des Klassenlehrers an einer Freien Waldorfschule« heraus. Das Heft enthält eine Übersicht über die Literatur, »die bei der Vorbereitung der Hauptunterrichtsepochen der Klassen 1-8 herangezogen werden kann«. Empfohlen wird kein einziges seriöses Sachbuch etwa über die NS-Zeit für den Geschichtsunterricht, sondern überwiegend anthroposophische Schmöker aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, einige davon gespickt mit Geschichten über ominöse »Wurzelrassen« und die Wanderungen der »Arier«. In den empfohlenen Büchern lesen wir, dass der Italiener heiter und impulsiv ist und aus Höflichkeit lügt, der Brite dagegen kühl und materialistisch sei. Der Araber wird als hart, leidenschaftlich, kalt und berechnend dargestellt. Der Asiate gilt als dekadent, er ist ein cholerischer Mongole oder ein phlegmatischer Malaie. Der Japaner lebte in leichten Holzhäusern mit Strohdächern, er lächle immer und unergründlich, dahinter verberge sich mitleidlose Härte. Afrikaner seien kindlich, gläubig und fromm, sie würden von ihrem Blut und ihren Trieben gelenkt. Und weil sie wie Kinder seien, müssten sie von Weißen geführt werden. Der Russe wird als jähzornig, brutal, rücksichtslos, gewalttätig, herrisch, ungeduldig, launisch, schicksalsergeben, leidensfähig, unzuverlässig und unpünktlich dargestellt.

Solcher Unsinn basiert auf der Idee der »Wurzelrassen«, die Steiner von den Theosophen übernommen hat. Demnach hat jede »Wurzelrasse« und jede ihre »Unterrassen« bestimmte Aufgaben in bestimmten Epochen. Angehörige und Nachfahren von »Rassen« und Völkern, die ihre Mission bereits hinter sich haben, gelten als dekadent und spirituell entwicklungsunfähig. Dieses Verdikt gilt Steiner zufolge für Juden, Franzosen und Italiener, Chinesen und Japaner ebenso wie für australische Aborigines und amerikanische Indianer. Begriffe wie »Wurzelrassen« oder »Rassen« meiden Steiners Jünger heute, sie sprechen lieber von »Kulturepochen«. Dass sich Menschen nicht in »Rassen« aufspalten lassen, dass menschliche »Rassen« nur als Hirngespinste von Rassisten existieren, hat sich in anthroposophischen Kreisen noch nicht herumgesprochen.

Darum werden den Waldorflehrern in diesen Literaturangaben aus dem Jahre 1998 auch rund 30 Werke Steiners empfohlen, in denen der Meister sich nicht bloß als Hellseher und die Anthroposophie als okkulte Geisteswissenschaft präsentiert, sondern über »Volksgeister« fabuliert, die Menschen in »Rassen« einteilt und behauptet, die »Arier« seien prädestiniert, das Geistige zu entwickeln. Allein die Gespräche, die Steiner von 1919 bis 1924 mit den Lehrern der ersten Waldorfschule in Stuttgart führte, füllen drei Bände, die zur Ausbildung von Waldorflehrern benutzt werden. Darin bezeichnet er Französisch als dekadente, lügenhafte »Leich­namssprache« eines untergehenden Volkes.

Die Waldorfschule präsentiert sich als Einrichtung, in der »ganzheitlich«, kindgerecht und altersgemäß zur Freiheit erzogen wird. Das ist irreführend, denn diese Begriffe haben für Anthroposophen einen bestimmten Sinn, der sich Außenstehenden, die in die okkulte Lehre Steiners nicht eingeweiht sind, nicht von selbst erschließt. Freiheit bedeutet Freiheit für die Anthroposophie. Kindgerecht und altersgemäß meint anthroposophische Dogmen über kindliche Entwicklung, die auf Hokuspokus um die Zahl 7 beruhen.

So behauptete der Guru, der Mensch bestehe aus physischem Leib, »Ätherleib« und »Astralleib« und einem göttlichen Ich, das erst nach dem 21. Lebensjahr erscheine. Die kindliche Aura stehe im Kontakt mit einer höheren Geisterwelt. Eltern und Erzieher dürfen darum keine »unreinen oder unkeuschen oder unmoralischen Gedanken« hegen. Gerundete Formen, rhythmische Bewegungen und sanfte Farben, insbesondere rosa getupfte Wände, trügen dazu bei, dass sich im Gehirn und im Blutkreislauf Anlagen für einen moralischen Sinn entwickeln. Steiner beschrieb das Kleinkind als »Plumpsack« oder »Mehlsack«, das nicht neugierig sei, was Erkenntnissen moderner Pädagogik und Entwicklungspsychologie widerspricht. Dass Kinder bis zum siebten Lebensjahr bloß nachahmen würden, ist Unsinn. Frühkindliche Trotzphasen und den Wunsch des »Selbermachens« erklärte Steiner als Wirken dämonischer Kräfte, die verfrüht ein Ich-Bewusstsein schüfen.

Im zweiten Jahrsiebt, vom siebten bis zum 14. Lebensjahr, streife der »Ätherleib« seine Hülle ab. Der nachahmende Instinkt des kleinen Kindes werde abgelöst durch »bewusstes Hinnehmen«. Der Schüler eigne sich an, was vom Lehrer »auf der Grundlage einer selbstverständlichen Autorität auf das Kind wirkt«. Darum müssen die Kinder der Waldorfschule von der ersten bis zur achten Klasse mit dem gleichen Klassenlehrer auskommen, der als »Schicksals- und Daseinsmacht« gilt, als »pädagogischer Künstler«, der alle grundlegenden Fächer unterrichtet.

Kritisches Denken vergifte Kinder und Jugendliche, meinte Steiner. Erst mit der Geschlechtsreife, wenn der »Ätherleib« enthüllt werde, dürfe der Lehrer die Urteilskraft der Jugendlichen entwickeln, sie dürfen sich »den Schnabel wetzen«. Allerdings solle reines »Kopfwissen« und »Intellektualismus« vermieden werden. Als didaktische Methode pries Steiner die Wiederholung. Intellektualität war ihm suspekt: »Alles Intellektuelle ist greisenhafter Wille, ist schon der Wille im Alter.« Über Sexualität und Erotik zu sprechen, ist in der Waldorfschule verpönt. Steiner empfahl stattdessen, den ästhetischen Sinn für das Erhabene und Schöne in der Natur zu fördern. Seit 2002 wird in Waldorfkreisen verklemmt über Sexualkunde debattiert.

Als »Grundlage allen wahrhaften Erziehens« gilt Steiners Auffassung von Reinkarnation und Karma. Darum sei »die gesamte Waldorfpädagogik in ihrem Kern auf einem Menschenbild (aufgebaut), für das Karma und Reinkarnation zentrale Tatsachen sind«, schrieb der Waldorfpädagoge Valentin Wember 2004 in der Zeitschrift Erziehungskunst. Über frühere Erden­leben anderer zu spekulieren, gilt zwar als taktloses Eindringen in die Privatsphäre, für Waldorf­lehrer gibt es aber eine Ausnahme. Ihnen ist »behutsames Spekulieren« erlaubt. Anthroposophen glauben, dass der Leib eines Kindes von Kräften geformt wird, die auf frühere Erden­leben zurückgehen. Wer in einem früheren Leben gelogen hat, dessen Leib sei in der nächsten Verkörperung davon geprägt, der werde als geistig Behinderter wieder geboren. »Jetzt kann der Mensch die Wahrheit nicht mehr richtig erfassen, er wird schwachsinnig«, schreibt Wember. Dieser Zusammenhang sei »eine spirituelle Gesetzmäßigkeit, die der Geistesforscher Rudolf Steiner entdeckt hat«. Der Erzieher solle sich vorstellen, dass er derjenige war, der im früheren Leben belogen wurde. Er müsse dem behinderten Kind verzeihen und ihm die Wahrheiten des geistigen Lebens beibringen. Der Erzieher arbeite auch »karmische Schuld« von Kindern ab.

Mit schlechtem Karma argumentieren Waldorfpädagogen, wenn sie Linkshänder zwingen, mit der rechten Hand zu schreiben. Die Toleranz, die an staatlichen Schulen heute üblich ist, kennt die freie Waldorfschule nicht. Michaela Glöckler, Medizinerin und Buchautorin, glaubt, es sei »für jedes Kind eine Willensübung«, mit der rechten Hand schreiben zu lernen, für das linkshändige Kind jedoch in besonderer Weise. Es lerne »durch ständiges Überwinden eines leisen Unbehagens, sich zusammenzunehmen«. Steiner zufolge haben sich Linkshänder in einem früheren Leben verausgabt. Sie müssten in diesem Leben »mehr Innerlichkeit« ausbilden, wofür die linke Körperhälfte zuständig sei.

Ein weiteres Element der Waldorfpädagogik ist die antike Temperamentenlehre. Anthroposophen glauben, jeder Mensch werde von einem Temperament geprägt, das es zu beherrschen gelte: Der Choleriker ist feurig und willensstark, der Sanguiniker lebhaft, zutraulich und unruhig, der Melancholiker scheu und schwermütig, ein Egoist und Eigenbrötler, der Phlegmatiker behäbig, er träumt mit offenem Mund und zieht möglichst bald das Pausenbrot aus dem Schulranzen.

Der Klassenlehrer bestimmt das Temperament eines Kindes und verfügt danach die Sitzordnung: links vor ihm die Phlegmatiker, dann die Melancholiker und die Sanguiniker und rechts die Choleriker. Kinder des gleichen Temperaments werden zusammengesetzt, damit sie sich »spiegeln«. Für jedes Temperament gibt es spezielle Erzähl- und Darstellungsweisen, bestimmte Übungen, sogar die vier Grundrechenarten werden temperamentspezifisch eingesetzt. Die Waldorf-Pionierin Caroline von Heydebrand riet, das melancholische Kind nie kalt abzuwaschen, ihm Salat und leichtes Gemüse zu geben, der Choleriker solle Holz hacken, Nägel einschlagen und Steine schleppen, und einem Phlegmatiker dürfe man morgens nicht erlauben, »sich aus reiner Genusssucht noch lange in den warmen Federn halb schlafend und dösend zu räkeln«. Der Sanguiniker brauche Abwechslung.

Das Karma bestimmt das Temperament eines Menschen. Weil die meisten Waldorflehrer keine großen Eingeweihten sind und nicht hellsehen können, wird auf Phrenologie und Physiognomik zurückgegriffen. Diese entstanden Ende des 18. Jahrhunderts, um Menschen in »Rassen« zu sortieren. Anthroposophen glauben, Choleriker hätten einen kurzen Hals und kurze Beine, Sanguiniker seien zart und wohlproportioniert, Melancholiker hoch gewachsen, schmal, hager und mit vorgebeugter Körperhaltung, Phlegmatiker rund und wohlgenährt. Musiker, Maler und Priester haben Erkenntnissen des Anthroposophen Norbert Glas zufolge große Nasen, hochsitzende Ohren verraten schrullige Intellektuelle und spitze Ohren den Kleptomanen.

Karma und Reinkarnation, Temperamente, Phrenologie, Zahlenmagie und Geisterglauben ergeben die anthroposophische Menschenkunde. Diese Menschenkunde ist Erkenntnis und »moralische Gesinnung« und für Lehrer ein »Mittel der Selbsterziehung«, ihr sind alle Waldorfschulen verpflichtet. Die »Treue zur erkannten Wahrheit verbindet die Lehrerkonferenz zur Schicksals- und Lebensgemeinschaft«, verkündete Heinz Zimmermann, Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach, dem weltweiten Hauptquartier der Anthroposophen. Die Versicherung, Waldorfschulen seien keine Weltanschauungsschulen, ist eine reine Schutzbehauptung.

Jede Waldorfschule gilt als auserlesene »Schick­salsgemeinschaft«, weil das Karma jeden Lehrer oder Schüler in eine bestimmte Einrichtung gebracht habe. Die äußerst bescheidene Mitbestimmung von Lehrern, Eltern und Schülern, die an öffentlichen Schulen üblich ist, hat sich an Waldorfschulen, die Tendenzbetriebe sind, längst nicht durchgesetzt. Praktisch fördert die Waldorfpädagogik wegen des Schulgeldes von bis zu einigen hundert Euro im Monat sowie des informell erforderlichen Habitus die soziale Auslese. Eine Untersuchung des Kriminologischen Instituts für Niedersachsen (KfN) aus dem Jahr 2006 besagt, dass von den befragten Schülern der 9. Klassen nur 1,1 Prozent der Eltern die Hauptschule besucht hatten. Nur 0,3 Prozent der Schüler stammen aus Migrantenfamilien, im Vergleich zu 18,3 Pro­zent an den Hauptschulen und 2,9 Prozent an den Gymnasien.

So sind Waldorfschulen weitgehend ausländerfreie Zonen, elitäre Einrichtungen, in denen Sprösslinge der Oberschicht und des akademischen Bürgertums vor Proletenkindern sicher sind. Waldorfpädagogik mag positive Aspekte enthalten, keine Noten und kein Sitzenbleiben, eine musische und handwerkliche Orientierung oder Epochenunterricht. Diese Dinge hat Steiner von Reformpädagogen abgekupfert und in okkultes Brimborium eingebettet. Kindern sollte man solche verkappten Religionsschulen ersparen.