Der Kommunist als Einzelgänger

Er lehrte Weltveränderung an der Volkshochschule, kritisierte die Bürokratie des ­Stalinismus und die Yuppie-Moral der Grünen und suchte nach der Synthese von ­Materialismus und Humanismus. Über den marxistischen jüdischen Philosophen Leo Kofler. Von Roger Behrens

Um es ganz kurz zu sagen: Ich betrachte die Welt jetzt mit anderen Augen. Das ist ganz kurz. Um Ihnen eine dezidierte Auskunft zu geben, müsste ich weiter ausholen, und das würde wahrscheinlich Ihre Zeit überstrapazieren.« Das ist die bün­dige Antwort von Theo Tetschet auf die Frage, was es ihm bringt, an der Kölner Volkshochschule die Soziologiekurse zu besuchen. Tetschet ist Automatenaufsteller. Und das will er auch bleiben, aber, fügt er hinzu, »das sagt ja nicht, dass ich auch dumm bleiben muss«.

Die beliebten Kurse, an denen Tetschet zusam­men mit einigen Arbeitern und Angestellten teilnimmt, leitet der damals schon 77jährige Leo Kofler. Damals heißt: 1984. Bereits seit drei Jahrzehnten wirkte Kofler zu der Zeit als Dozent in Köln; seit 1951 war er in der gewerkschaftlichen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig; in Bochum übernahm er 1972 einen Lehrstuhl an der soziologischen Fakultät. Im Rheinland und Ruhrgebiet war er seinerzeit ein bekannter Linksradikaler, ein geschätzter politischer Aktivist, ein guter Lehrer; er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen und über Philosophie, Soziologie, Psychologie, Ästhetik, Literatur und Geschichte geschrieben – ein namhafter kritischer Theoretiker, und dennoch und darüber hinaus nahezu unbekannt. Wer ist dieser Leo Kofler?

Anlässlich seines 100. Geburtstags in diesem Jahr hat der Bochumer Sozialhistoriker Christoph Jünke eine 700seitige monumentale Biografie über den marxistischen Einzelgänger ver­fasst. Zugleich hat Jünke eine Gesellschaftsbiografie geschrieben, die sich wie ein gewaltiger Exkurs zum »kurzen zwanzigsten Jahrhundert« (Hobsbawm) liest. Mit Kofler begibt sich Jünke auf Spurensuche nach »sozialistischem Strandgut«, aus dem sich die Geschichte der europä­ischen Linken rekonstruiert.

Vor 100 Jahren, am 26. April 1907, wird Kofler im galizischen Chocimierz geboren. 1914 muss die Familie vor Überfällen zaristischer Soldaten­banden fliehen, gelangt wie viele Ostjuden nach Wien, wo Kofler Kindheit und Jugend verbringt. Die Stadt prägt ihn; das »Rote Wien« ist von der sozialistischen Arbeiterbewegung und vom so genannten Austromarxismus bestimmt, und natürlich hinterlassen auch Psychoanalyse und künstlerische Moderne ihre Spuren, so dass Kof­ler schnell seinen Weg zum Kommunismus findet: Vor allem der Einfluss Georg Lukács’ – er publiziert 1923 seine Studie »Geschichte und Klassenbewusstsein« – führt Kofler zum historischen Materialismus; von Max Adler übernimmt er sozialpsychologische Motive, die er später in seiner Dialektik des bürgerlichen Bewusstseins ausbaut.

Kofler sagte 1987 im Rückblick, er sei Adlers Lehren »einige Jahre mit fanatischer Begeisterung« gefolgt. Jünke schreibt: »Es war Adler, der ihn in die Welt des marxistischen Denkens einführte und unter dessen Einfluss er sich in die Diskussionen seiner Zeit einmischen sollte. Auch wenn er sich selbst in späteren Jahren weniger als Schüler Adlers denn als Schüler von Georg Lukács profilieren sollte, so blieb er  (… ) in entscheidenden Aspekten seines Lebens und Werkes ein getreuer Schüler des großen Austromarxisten.«

Adlers Materialismus ist dabei nicht unpro­ble­matisch. Gilt doch der Austromarxismus als Spielart marxistischer Theorie, die sich weniger an der materialistischen Analyse der Verhältnisse, weniger an der Kritik der politischen Ökonomie und dialektischen Logik orientierte, als vielmehr an einer ethischen Fundierung des Sozialismus und einem idealistischen Gesellschaftsverständnis, bei dem Fragen des Bewusst­seins im Zentrum standen. In Jünkes Worten: »Gemeinsam ist allen Austromarxisten die Ablehnung des philosophischen Materialismus als vermeintlich metaphysisches Relikt bei Marx und Engels sowie die besondere Betonung, die sie dem Psychischen als einer tragenden, selbst die so genannte ökonomische Basis durchwirkenden Säule gesellschaftlicher Verhältnisse zu­sprachen. Alles, was Menschen beeinflusst, muss, so die im Austromarxismus überall präsente Einschätzung, durch den Kopf hindurch. Vor allem Max Adler hat diese subjektzentrierte Orientierung theoretisch zu fassen versucht.« Friedrich Engels hatte im Übrigen ganz Ähnliches selbst formuliert: »Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muss durch ihren Kopf hindurch; aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.«

Bei Kofler wird sich dies später in seiner Anthropologie wiederfinden: Schon 1955 heißt es in »Geschichte und Dialektik«, dass der Mensch nicht anders gedacht werden könne »als ein mit Hilfe seines Kopfes tätiger, das heißt also bewusstseinsbegabter Mensch«. In seinem Aufsatz »Ethischer oder marxistischer Sozialismus«, ebenfalls aus dem Jahr 1955, führt Kofler aus: »Die sich selbst durch bewusste (d. h. stets durch das Bewusstsein hindurch vollzogene) Tätigkeit ›machende‹ Gesellschaft findet die Kriterien ihrer Erkenntnis in sich selbst, in ihren an sich einsehbaren und verstehbaren Absichten, Zielen und Voraussetzungen der Verwirklichung dieser Ziele.«

Kofler gibt Adlers Theorie des Bewusstseins eine materialistische Wendung, indem er eben die tätige Seite des Bewusstseins betont – das, was Marx in seinen Feuerbachthesen die »sinnlich menschliche Tätigkeit« oder »praktisch-kritische Tätigkeit« nennt. Entscheidend für Kof­lers Wendung ist der Praxisbegriff, den er in Anlehnung an Georg Lukács entwickelt; gleich­wohl findet sich die theoretische Basis dafür schon bei Adler selbst, etwa in seinem »Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung« von 1930: »Wenn nämlich die ökonomischen Verhältnisse nichts anderes als menschliche Verhältnisse sind, so sind sie zugleich und wesentlich geistige Verhältnisse, sie enthalten daher stets eine bestimmte zweckbewusste Tätigkeit von Menschen. Wenn also die marxistische Theo­rie davon ausgeht, dass die ökonomischen Verhältnisse die in letzter Linie die geschicht­liche Entwicklung bestimmenden Faktoren sind, so ist damit zugleich gesagt, dass sie die geschichtliche Entwicklung nicht auf etwas Geistfremdes zurückführt. Sie lässt also die Geschichte nicht von einem rein sachlichen Element abhängig werden, sondern baut sie im Gegenteil auf geistige Verhältnisse auf.«

1938 zieht der nazideutsche Terror in Wien ein, durchaus bejubelt von der Bevölkerung, unterstützt von bestellten Claqueuren. Kofler kann sich noch an den Mob erinnern, der durch Wiens Straßen zog, sie diesmal in ein anderes Rot färbend: »Schlagt die Juden tot! Juda verrecke! Hitler erwache!« – »Nachts erwache ich manchmal, weil ich diese gellenden Schreie zu hören glaube. Nach mehr als anderthalb Jahrzehnten verfolgen mich die grauenhaften Bilder von geschlagenen Menschen, die mit blutigem Schaum vor den Gesichtern aus den Wohnungen geschleppt und auf Lastwagen verladen wurden«, heißt es Mitte der Fünfziger in einem – unveröffentlichten – Hörfunkbeitrag Koflers.

Die Flucht droht zunächst zu scheitern, als Kofler von der SA aufgegriffen und misshandelt wird; es ist reines Glück, dass die Nazis zu der Zeit Juden gezielt ausreisen lassen: Noch 1938 gelangt Kofler in die Schweiz – es folgt eine gleichwohl unsichere Zeit in Flüchtlingslagern. »Leo Koflers Überleben in der Schweiz war, wie das fast aller anderen Flüchtlinge, nur durch die Solidarität jüdischer Organisationen und deren materielle Hilfsbereitschaft möglich«, schreibt Jünke. Für Millionen andere Juden und Kommunisten gibt es keine Hoffnung – Koflers Eltern werden bei einer Massenerschießung 1942 in Minsk ermordet, seine Schwester stirbt an den Folgen der in Auschwitz und Bergen-Belsen erlittenen Qualen.

Kofler bleibt bis 1947 in der Schweiz, nimmt dann eine Dozentur an der Universität in Halle an der Saale an, damals noch Sowjetische Besatzungszone. Noch im Exil veröffentlichte er 1944 »Die Wissenschaft von der Gesellschaft. Umriss einer Methodenlehre der dialektischen Soziologie« und schreibt an seiner »Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft«. Mit diesen Arbeiten kann er sich 1947 in Halle promovieren und ein Jahr später bereits habilitieren. Trotz seines ungebrochenen geschichtsphilosophischen Optimismus, wonach das kapitalistische Zeitalter von einer befreiten Gesellschaft abgelöst werden muss, merkt er alsbald, dass es im jungen Arbeiter- und Bauernstaat DDR nur wenig sozialistische Impulse gibt. Stattdessen setzt sich der Stalinismus durch und fort – für Kofler ausreichend Grund, schon 1950 wieder aus der SED auszutreten und nach Köln zu gehen. Hier publiziert er in mehreren Broschüren eine marxistische Kritik am Stalinismus.

Im Wesentlichen geht es dabei um eine Auseinandersetzung mit der Bürokratie, die den Marxismus um seine entscheidenden Elemente beraubt. »Zum einen eliminiere das stalinistische Denken die Dialektik aus dem Marxismus. Zum zweiten reduziere es den historischen Materialismus auf einen platten, mechanischen Ökonomismus. Und schließlich vergesse der Stalinismus den marxistischen Humanismus, der darauf aus sei, den Menschen aus jeglicher Entfremdung zu befreien«, fasst Jünke die Stalinismuskritik Koflers präzise zusammen.

Das im dritten Punkt angesprochene Problem der Entfremdung bezeichnet mithin einen Aspekt, der zunehmend ins Zentrum der kritischen Theorie Koflers rückt, verbunden mit einem emanzipatorischen Konzept der Praxis. Der Spätkapitalismus ist dadurch gekennzeichnet, dass er in immer mehr Lebensbereiche eindringt, die fortschrittlichen Kräfte absorbiert und die revolutionären Bewegungen integriert. Die Verhältnisse manifestieren sich im Bewusstsein und bleiben zugleich in ihrer Struktur unbewusst. Kofler spricht von der »Ver­geistigung der Herrschaft«, wie ein spätes, zwei­bändiges Hauptwerk von 1986/87 heißt. Die Ent­fremdung in der spätbürgerlichen Gesellschaft findet ihren vielfältigen und widersprüchlichen Ausdruck im konkreten Alltagsleben der Menschen; wie Ernst Bloch oder Henri Lefebvre geht auch Kofler davon aus, dass dies nur in Detailanalysen kritisch darstellbar ist.

In seiner kritischen Theorie des Bewusstseins setzt er sich intensiv mit Herbert Marcuse auseinander; dessen Mitte der fünfziger Jahre erschienene Studie »Triebstruktur und Gesellschaft« bildet gleichsam den Ausgangspunkt für Koflers marxistische Sozialpsychologie. Außerdem übernimmt er von Marcuse dessen Anfang der vierziger Jahre entwickelten Begriff der »technologischen Rationalität«. 1971 heißt es in »Technologische Rationalität im Spätkapitalismus«: »Der jeweilige Bereich technologischer Rationalität schwebt nicht frei im Raum, sondern ist vielseitig eingebettet in einen gewaltigen Strom fetischistischer und nihilistischer Irrationalität; letztere bildet deshalb die allgemeine Voraussetzung im Prozess der ideologischen Absicherung sowohl der bestehenden ökonomischen Bedingungen, unter denen sich die technologisch-rationalen Handlungen vollziehen, wie dieser selbst gegen jegliche mögliche Infragestellung. Von einer völlig autonomen technologischen Rationalität, die sich die ganze Gesellschaft unterwirft und den einzelnen Wissenschaften ihr eigenes Wesen aufprägt, kann somit nicht die Rede sein.« Kofler übersetzt dies später in eine luzide Kritik der Politik der Grünen, wie seine Analyse der »›Yuppie‹-Moral« als »neoliberaler Sozialdarwinismus« – auch die Postmoderne ist in den achtziger Jahren schon Thema bei Kofler.

Er stirbt am 25. Juli 1995 in Köln; Zeit seines Lebens hält er marxistisch an der Hegelschen Idee des Fortschritts fest. »Das ist das Tröst­liche an der Geschichte: dass die Geschichte immer klüger ist als alle die Meckerer und Nihilisten« , lehrt er 1984 in seinem Volkshoch­schul­seminar. Der Nihilismus, die zynische Kapitulation vor den Verhältnissen, die selbstbewusst auftretende Ohnmacht – das war ihm das Schlimms­te, der politische Verrat am sozialistischen Huma­nismus. Kritische Theorie setzte er als Methode dagegen, sich nicht dumm machen zu lassen.

Ob er denn durch Kofler Marxist geworden sei, wird Theo Tetschet gefragt: »Ja, so kann man sagen«, antwortet er. Was das bedeutet, weiß Rolf Hilgenstock, ein junger Arbeiter, der seit vier Jahren »beim Leo« an den Kursen teilnimmt: »Ich brauch’ mich nicht mehr so ver­arschen zu lassen.«

Christoph Jünke: Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler. Leben und Werk (1907–1995), VSA, Hamburg 2007, 702 Seiten, 39,80 Euro, mit zahlreichen Schwarzweiß-Fotos. Auf der Homepage der Leo-Kofler-Gesellschaft e.V. (www.leo-kofler.de) finden sich einige Beiträge Koflers als Volltext.