Exekutionen am Mittagstisch

Seit den Morden von Duisburg kehrt die Mafia ins Bewusstsein der Gesellschaft zurück. Doch die »Organisierte Kriminalität« ist kein italienisches Phänomen. Von Uli Krug
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Wer heute von »der Mafia« redet, meint nicht zwangsläufig eine in Italien beheimatete kriminelle Vereinigung. Die »Mafia« dient vielmehr als globales Synonym für Geschäftspraktiken, die im Amtsdeutsch unter dem Stichwort »Organisierte Kriminalität« firmieren. Und zunächst bezeichnen beide Begriffe etwas Gemeinsames: nämlich eine Art und Weise, sich zu bereichern, indem man die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln verletzt, missachtet und bricht, die aufs Ganze gesehen Schatzbildung und Akkumulation geschichtlich erst möglich gemacht haben und immer noch machen.

Also in anderen Worten: sich zu bereichern, indem man die Bannung der Gewalt in Verträge und Rechtsformen missachtet, die historisch den Erwerb von Reichtum und vor allem die Motivation zum Erwerb erst begründet hat. Die ewige Unsicherheit am Gewonnenen und noch die größte Prachtentfaltung des kriminellen Paten im Kleinen oder des kriminellen Potentaten im Großen stellen also eine glatte Negation des Reichtums dar.

Derlei traurige Zustände bekommen aber durch die Bezeichnung »Mafia« auch eine unverdiente Aura von böser Gangster-Romantik, archaischen Familienkonflikten, Blut & Tomatensoße, muffigen Kellergewölben und Exeku­tionen bei Tisch.

All das bot jüngst die ’ndrangheta-Familienfehde, die die Morde in der Duisburger Pizzeria »Da Bruno« und die darauf folgende Verhaftungs­welle im kalabresischen Städtchen San Luca nach sich zog. Der derzeitige Kronzeuge gegen die ’ndrangheta, Giorgo Basile, gab dazu noch den passenden Kommentar ab, der dem deutschen Zeitungsleser wohliges Gruseln beim nächsten Ristorante-Besuch bescheren sollte: »Wo es Pizza gibt, ist auch die Mafia zu Hause.«

Diese mittlerweile tief in der populären Kultur verankerten Bilder von der Mafia geben die heutzutage stark auf Osteuropa konzentrierten Aktivitäten der »Organisierten Kriminalität« keines­wegs repräsentativ wieder: Weder herrscht dort ein ländlich-spätfeudaler Ehrenkodex noch die für Süditalien bis in die heutigen Tage hinein so typische großfamiliäre bzw. ortsgebundene Organisationsstruktur. So ist etwa die soziale Basis des mächtigen Mafia-Clans der Corleonesi das sizilianische Corleone, auch wenn diese »Familie« Anfang der achtziger Jahre in einem blutigen Bandenkrieg mit über 300 Toten die Hauptstadt Palermo unter ihre Kontrolle bringen konnte.

Diese Eigenarten hatte der legendäre Richter und Mafia-Aufklärer Giovanni Falcone im Sinn, als er kurz vor seinem durch eine Bomben­explosion, die 1992 ein ganzes Stück der Autobahn Neapel-Palermo pulverisierte, verursachten Tod sagte: »Während man früher davor zurückschreckte, das Wort ›Mafia‹ auszusprechen, benutzt man es heute sogar zu viel. Es gefällt mir nicht, dass man fortwährend von der Mafia spricht, um etwas sehr Allgemeines zu beschrei­ben, denn dabei vermischt man nur Phänomene, die zwar in der Tat zum organisierten Verbrechen gehören, mit der eigentlichen Mafia aber wenig bis gar nichts zu tun haben.«

Diese sizilianische Mafia entstand historisch aus der Schicht der so genannten gabelutti, die ursprünglich im Namen der Großgrundbesitzer Steuern und Abgaben eintrieben. Dabei eigneten sie sich zunehmend Hoheitsrechte an, stellten bewaffnete Truppen auf, übernahmen die Verwaltung und sprachen Recht – und ersetzten so noch lange Zeit den zunächst in Florenz und später in Rom, aber jedenfalls weit weg residierenden Zentralstaat, weswegen der Mafia heute noch der respektvolle Name »ehrenwerte Gesellschaft« eignet.

Die Camorra operiert in vielen mittelitalienischen Städten, überwiegend aber in Neapel. Sie rekrutierte sich aus den noch in der Bourbonenzeit aufgebotenen städtischen Polizeitruppen, die erst nach und nach von den Organen der neuen italienischen Zentralgewalt abgelöst wurden. Während die Camorra ursprünglich also eine Organisation von bad cops war, hat die ’ndrangheta ihre Urspünge im kalabresischen Brigantentum; allerdings nur historisch, denn die heutigen Geschäftsfelder wie Schutzgelderpressung, Bauspekulation, Geldwäsche und Drogenhandel unterscheiden sich nicht von denen der anderen beiden oder der deutlich jüngeren in Apulien tätigen Organisation Sacra Corona Unita.

So verschieden die Ursprünge sind, so ist doch allen Organisationen gemeinsam, dass sie dem Machtvakuum entstammen, das der sklerotische Feudalismus spanischer bzw. bourbonischer Prägung im Süden dem jungen Königreich Italien in den sechziger Jahren des 19.Jahrhunderts hinterlassen hatte – und das zu füllen der Republik bis heute nur unvollständig gelungen ist. Doch verliert die Großfamilie – und damit das von ihr gewährte soziale Schutzversprechen und zugleich ihre bis in den Tod fesselnden Bande – an Bedeutung. Sie nämlich war die Basisorganisation der süditalienischen Parallel­gesellschaft und so auch die der klassischen Mafia.

Demgegenüber allerdings profitiert die moderne Mafia, die sich immer schneller zum ­ordinären Verbrechersyndikat ohne höhere Weihen und Loyalitäten wandelt, dann doch wieder von den modernen Verhältnissen im Süden; hauptsächlich von der Ausschließung weiter Teile der Jugend aus einem für sie verriegelten Arbeitsmarkt. Das Syndikat verwaltet vor Ort nämlich neben dem von vorneherein kriminellen Kerngeschäft Drogen- und Waffenhandel die gewerkschaftlich nicht organisierten (Teil-) Branchen von der Kleingastronomie über die Schwitzbuden-Fabrikation bis zum Tiefbau. Und wer nicht alleine mit den spärlichen staatlichen Zuwendungen dahinvegetieren möchte, kommt deshalb bei jedem zweiten Schwarz-Job (und andere gibt es kaum) mit dem »Organisierten Verbrechen« in Berührung.

Doch selbst in Palermo, auf der Nachtseite bürgerlicher Verkehrsformen, besteht der Gegensatz von persönlicher Gewalt und verallgemeinertem Reichtum fort. Er ist der Grund dafür, warum die Mafia weder mit der öffentlichen Verwaltung (auch nicht der sizilianischen) identisch ist, noch mit einem Konzern im herkömmlichen Sinn verglichen werden kann. Selbst Kohorten bestechlicher Mitarbeiter würden nichts daran ändern, dass eine zweckrationale Verwaltung und ein auf Akkumulation gepolter Konzern nicht auf unberechenbare Gewaltherrschaft und den Ehrenkodex personaler Macht gegründet sein können, wenn sie auf Dauer erfolgreich sein wollen. Deswegen gerät auch der italienische Staat mit Notwendigkeit immer wieder in Konflikt mit der Mafia – und das obwohl sogar ehemalige Regierungschefs wie Andreotti der Mafia Schutz gewährten.

Die Spannung zwischen korrupten Politikern und dem Anspruch des Staates, sein Gewaltmonopol gegen die mafiöse Konkurrenz durchzusetzen, macht wiederum den besonderen Reiz des Genres Mafia-Thriller aus : Seine besten Werke in Film- und Buchform verbinden so gegensätzliche Elemente wie Verschwörungswahn und Rechtsidealismus, bizarre Gewalt und feingeistige Andeutung. Nicht umsonst ist darum Roberto Savianos gerade auf Deutsch erschienenes Buch »Gomorrha«, eine »Reise ins Reich der Camorra«, gegenwärtig ein Bestseller in Italien. Das Meisterwerk der Gattung bleibt ein Film von Florestano Vancini: »Gewalt – die fünfte Macht im Staat«, der 1973, als Andreotti italienischer Ministerpräsident war, in die Kinos kam. Drei Viertel des Films spielen in einem Klaustrophobie hervorrufenden sizilianischen Gerichtssaal, in dem die Staatsanwaltschaft sich ein ermüdendes Gefecht nicht nur mit findigen Anwälten, sondern vor allem mit lustlosen Richtern und korrupten Polizisten liefert. Ein Triumph der Mafia, wie er am Ende des Filmes steht, wäre heutzutage kaum mehr möglich – das immerhin ist ein Fortschritt.