»Die Demokratie wurde für die Stabilität geopfert«

Leung Kwok-hung, Abgeordneter im Parlament Hongkongs

Leung Kwok-hung gilt als das enfant ter­rible der Hongkonger Politik. Besser bekannt ist er als »Longhair«, er hat geschworen, seine Haare nicht zu schneiden, bis die chinesische Regierung sich für das Massaker auf dem Tiananmen-Platz entschuldigt. Der Trotzkist wurde mehrmals kurzzeitig inhaftiert, unter anderem wegen des Verbrennens der chinesischen Nationalflagge auf dem Besucherpodium des Hongkonger Parlaments. Er fordert unter anderem die Freilassung aller politischen Gefangenen, ein allgemei­nes Wahlrecht, das Recht, unabhängige Gewerkschaften zu gründen, die Besteuerung von Spekulationsgewinnen, einen höheren Mindestlohn und Sozialhilfe. Seit Oktober 2004 ist er Abgeordneter des Hongkonger Parlaments, er gehört der League of Social Democrats an. interview: benjamin engbrocks

Als linker Aktivist in Hongkong, steht man da nicht auf verlorenem Posten?

Wenn ich davon rede, für eine sozialistische Regierungsform zu kämpfen, kommt gewöhnlich die Frage, ob ich einen Krieg anzetteln möchte, und der Vorwurf, ein Unruhestifter zu sein. Ein zusätzliches Problem ist natürlich noch das so genannte kommunistische Regime im Norden, in Festlandchina. Sobald man aber einmal mit den Leuten diskutiert, ist es nicht allzu schwer, ihnen klarzumachen, dass der Volksrepublik etwas Entscheidendes fehlt, um ein wirklich sozialistisches oder kommunistisches Land zu sein: Demokratie.

Hat sich denn daran etwas geändert, seit Sie im Hongkonger Parlament sitzen?

Durch mein Mandat als Abgeordneter im Legislativrat stehen uns natürlich eine ganze Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung, die wir vorher nicht hatten. Im Grunde versuchen wir nichts anderes, als die Ressourcen, die uns dadurch zur Verfügung stehen, bestmöglich für eine linke Politik auszunutzen. Wir unterstützen dabei die Anliegen verschiedenster Gruppen und Initiativen, um ihnen so eine Stimme zu geben. Abgesehen davon, dass wir uns nicht anmaßen wollen, den Menschen Hongkongs vorzuschreiben, wie ihre Stadt auszusehen hat, ist das auch ein Grund dafür, das wir von der League of Social Democrats keine Partei, sondern eine soziale Initiative sind und bleiben. So bleiben wir offen für alle, die sich engagieren möchten, und haben die Chance, uns ganz konkret für die jeweiligen Forderungen von Betroffenen einzusetzen, ohne irgendeiner Parteilinie oder ähnlichem zu folgen.

Wie steht es denn um das Verhältnis zwischen der Volksrepublik und Hongkong?

Die Regierung in Peking propagiert: »Ein Land, zwei Systeme«. Das bedeutet im Grunde nichts weiter, als dass wir hier in Hongkong das Casino sind, in dem sich China mit dem Rest der Welt zum Glücksspiel trifft. Beide Seiten profitieren dabei. Einerseits die internationalen Konzerne, die über Hongkong Zugang zum chinesischen Markt und billigen Produktionsstätten auf dem Festland bekommen. Andererseits die chinesische Regierung, die vor allem an dem Zufluss harter Währung interessiert ist, der benötigt wird, um das Wirtschaftswachstum in Gang zu halten. Um ungestört wirtschaften zu können, benötigen beide Seiten ein hohes Maß politischer Stabilität in Hongkong. Für diese Stabilität wurde allerdings die Demokratie geopfert. So sind nur die Hälfte aller Abgeordneten im Hongkonger Parlament durch öffentliche Wahlen legitimiert, und durch den von ihr eingesetzten Hongkonger Chief Executive, Donald Tsang, behält sich die Pekinger Führung das letzte Wort bei allen wichtigen Entscheidungen vor.

Und die Bürger Hongkongs? Wollen die nicht noch immer die Demokratie?

Die wirtschaftliche Elite macht ja ohnehin gute Geschäfte mit China, und die Hongkonger Mittelklasse ist glücklich mit ihrem wirtschaftlichen Aufstieg und der relativen Sicherheit ihres Wohlstands, deshalb gibt sie sich zufrieden mit dem politischen Status Quo. Verglichen mit dem Festland sind die politischen Verhältnisse hier ja auch geradezu paradiesisch. Die Pan-Democrats als Sprachrohr der Mittelklasse haben schon lange das Momentum verloren, um für eine wirkliche Demokratie zu kämpfen, ihnen fehlt mittlerweile auch einfach der Mut. Tragisch ist das aber vor allem für die unteren Schichten, die einfachen Arbeiter und Tagelöhner. Ein gutes Beispiel dafür sind zwei Protestkampagnen der letzten Wochen, einerseits die Proteste für den Erhalt des Queen-Victoria-Piers und andererseits der Arbeits­kampf der Stahlarbeiter für höhere Löhne und den Acht-Stunden-Tag. Würden die verdammten Pan-Democrats ihr gesamtes politisches Gewicht für die Stahlarbeiter einsetzen, dann gäbe es viel­leicht eine Chance auf Erfolg. Aber dafür sind sie sich zu schade, sie halten es für ehrenrührig, mehr Geld zu fordern. Die Bewegung zum Erhalt des Queen-Piers dagegen wird mit viel Wohlwollen unterstützt. Das gibt schöne Pressefotos und wenig Probleme.

Sie sind nicht für den Erhalt des Piers?

Doch, doch. Ich bin durchaus für den Erhalt des Queen-Piers und unterstütze die Bewegung. Die Sache ist eigentlich ganz einfach: Der Pier ist mir egal, aber eine weitere Stahl- und Betonwüste, ein weiteres Kaufhaus will ich schon mal gar nicht. Davon haben wir wirklich schon genug hier in Hongkong.

Gibt es denn Perspektiven für einen politischen Wandel auf dem Festland?

Wir sehen schon jetzt, dass vor allem die gesellschaftliche Freiheit in Hongkong Einfluss auf die Volksrepublik hat. Die Mund-zu-Mund-Propaganda der Touristen vom Festland, die nach Hongkong kommen und nach dem Urlaub ihren Freun­den und Verwandten davon erzählen, dass man hier auf alle Internetseiten Zugang hat, jede Zeitung lesen und jedes Fernsehprogramm sehen kann, egal ob unabhängige Nachrichten oder Por­nographie, verstärkt den Wunsch nach Veränderung auch auf dem Festland. Es braucht einfach nur ein wenig Zeit und Geduld.

Und das soll für eine Veränderung in China ausreichen?

Noch ein weiterer Umstand spricht langfristig für einen Wandel Chinas. Die Industrialisierung in Europa führte zu einem Wandel der Arbeitsverhältnisse. China durchlebt derzeit einen ähnlich extremen Wandel in den Arbeits- und Produktionsverhältnissen. Durch die stärkere Teilhabe Chinas an der Weltwirtschaft wird dieser Prozess in den nächsten Jahren auch noch beschleunigt werden. Der Bedarf an Arbeitskräften für die aus dem Boden sprießenden Fabriken kann dabei nur durch die Landbevölkerung gestillt werden. Aber selbst für die einfachen Arbeiten in den Fabriken braucht es ein Mindestmaß an Bildung. Der chinesische Staat ist also, um den wirtschaftlichen Aufschwung nicht zu gefährden, dazu gezwungen, den Bildungsgrad der Bevölkerung zu erhöhen. Mit höherer Bildung werden sich die Menschen aber auch mehr und mehr ihrer Lage bewusst und bereit, für Verbesserungen zu kämpfen. Aber wie ich schon sagte, wir brauchen Geduld.

Bei dem Stichwort China würde den meisten Ar­beitern und Angestellten in Deutschland vermutlich Billigproduktion dort und der Wegfall von Arbeitsplätzen im eigenen Land einfallen.

Ja, ich weiß. Die meisten Arbeiter und auch Gewerkschaften in Deutschland, aber vermutlich fast überall, scheinen im Moment eher konservativ oder protektionistisch zu sein. Das ist nichts anderes als Sektierertum, sie sind nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Sie denken vermutlich, dass die Globalisierung nur sie betrifft. Aber natürlich hat jede Veränderung auf der einen Seite des Globus auch ihre Effekte auf der anderen Seite, manchmal gute, manchmal schlechte. Wir müssen gemeinsam kämpfen, wenn wir gewinnen wollen. Der Einzelne ist verwundbar, deshalb brauchen wir eine wirkliche weltweite Massenbewegung, die sich für die Rechte, die Freiheit und ein lebenswertes Leben aller Menschen einsetzt.

Wie sollte so etwas denn aussehen, eine weltweite Massenbewegung?

Der Aufbau einer Massenbewegung und letztlich einer sozialistischen Gesellschaft ist wohl die schwerstmögliche Aufgabe, und ich bin sicher nicht schlau genug, um zu sagen, wie sie aus­sehen und aufgebaut werden könnte. Was ich aber mit Sicherheit weiß, ist, dass wir keinen selbst erklärten Führer à la Chávez brauchen, der sich als eine Art Wiedergeburt Ché Guevaras ausgibt und so anmaßend ist, sich zum Anführer einer neuen Linken aufzuschwingen. Ich vertraue ihm einfach nicht. Was hat der denn schon Großartiges gemacht? Er war halt zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber da hat Tito mehr getan, der hat immerhin mit einem Guerillakrieg in den Bergen die Nazis bekämpft.