Särge auf Reisen

Die Zeit des authentischen Kiezfilms ist vorbei. Fatih Akins »Auf der anderen Seite« ist eine mit distanziertem Blick gedrehte, universale Parabel. von esther buss

Seit einigen Jahren schon entwickelt sich der Episodenfilm in eine populärphilosophische Richtung. Der Glaube an das Schicksal hat den Zufall abgelöst, das beiläufige Aufeinandertreffen von Geschichten und Figuren hat nun oftmals den Charakter des Vorherbestimmten und Zwangsläufigen. In vielen Filmen widerfahren den Protagonisten schwere Unglücke, aber anstatt an ihnen zu zerbrechen, werden die Figuren vom Geschehen »größer« und mensch­licher gemacht. So wird ihre anfängliche Einsamkeit letztlich durch einen übergeordneten, Sinn stiftenden Zusammenhang aufgehoben, der Tod ist dabei fast eine Zu­flucht.

Eigentlich sind diese humanistisch gefärbten Episodenfilme eingestampfte Katastrophen­filme. Statt Erdbeben, Flutwellen oder Ähnlichem geschieht meist ein tragischer Unfall, jemand wird ungewollt getötet oder gerät unter ein Auto. Nach dem Zerbrechen und der Auflösung von Beziehungen werden die Figuren auf schick­salhafte Weise zusammengeführt. Neue Verbindungen entstehen.

Fatih Akin bewegt sich in seinem neuen Film »Auf der anderen Seite« innerhalb der Konventionen dieses wuchtigen Genres, das nicht zuletzt durch den mexikanischen Regisseur Alejandro González Iñárritu so populär geworden ist. Akin verzichtet dabei aber auf all den Bombast, das Pathos und die Schicksalsgläubigkeit, die Iñárritus letzten Film »Babel« so maßlos aufgeblasen haben. Die Parallelen zu diesem Film sind dennoch nicht zu übersehen: die versehentliche Tötung einer Person durch ein Kind, die Frage von Schuld und Vergebung und der Topos der Grenze. Bei Akin verläuft sie zwischen Deutschland und der Türkei, zwischen Staatsgewalt und politischem Widerstand, aber auch zwischen Vater und Sohn, Mutter und Tochter, zwischen Leben und Tod – eben genau das, was das »hier« von der »anderen Seite« trennt. In einer Szene sitzt Nejat, ein junger, deutsch-türkischer Germanistik-Professor, mit Susanne Staub, deren Tochter gerade ums Leben gekommen ist, beim Abendessen in Istanbul zusammen. Er fragt sie, wo­rauf sie trinken sollen. »Auf den Tod!« antwortet die von Hanna Schygulla gespielte Frau, ganz so, als sei der Tod ein Verbündeter und Vertrauter, kein ab­strakter Feind, den man zu fürchten habe. Bis die beiden an diesem Punkt angekommen sind, müssen sie und mit ihnen die anderen vier Figuren des Films noch einen weiten Weg zurücklegen, auch ganz wörtlich gesprochen. Meist sind sie unterwegs, im Bus, in der Straßenbahn, im Auto oder auf dem Schiff. Grenzkontrollen auf Flughäfen werden passiert, und zwei Transportband, einmal aus einem Flugzeug heraus, das andere Mal in ein Flugzeug hinein. Und ähnlich wie im klassischen Road Movie geht irgendwann aus den Erfahrungen, die auf den zurückgelegten Strecken gemacht wurden, eine Erkenntnis hervor.

Erzählt wird die Geschichte von sechs Personen, deren Leben sich zwischen Deutschland und der Türkei berühren oder auch verfehlen. Yeter (Nursel Köse), eine in Bremen arbeitende Prostituierte, lässt sich von dem einsamen Witwer Ali (Tuncel Kurtiz) als Lebensgefährtin und Privathure für ein monatliches Honorar anstellen. Sein Sohn Nejat (Baki Davrak) steht der Verbindung zunächst etwas skeptisch gegenüber, bis er erfährt, dass Yeter mit ihrem Beruf das Studium ihrer Tochter Ayten (Nurgül Yesilçay) finanziert. Währenddessen wird Ayten in Istanbul als pro-kurdische Oppositionelle von der Polizei gesucht und reist illegal nach Deutschland ein. Dort lernt sie die verwöhnte Studentin Lotte Staub (Patrycia Ziolowska) kennen, von der sie aufgenommen wird. Lotte, die mit ihrer Alt-68er-Mutter Susanne (Hanna Schygulla) zusammenwohnt, verliebt sich in Ayten. Als deren Asylantrag abgelehnt und sie in ein türkisches Frauengefängnis abgeschoben wird, reist Lotte ihr nach. In Istanbul kreuzen sich schließlich die Wege einiger Figuren, und diejenigen, die sich bis zum Ende des Films verpasst haben – so ist zumindest anzunehmen –, werden sich doch noch irgendwann gegenübertreten.

Zwei Frauen müssen bis dahin sterben, ihr Tod wird zwar angekündigt durch Zwischentitel, bricht aber dennoch ganz überraschend und plötzlich in die Erzählung ein. Akin filmt diese Tode ohne jede dramatische Aufbereitung in einer statischen Einstellung, ganz trocken und so realistisch, dass es fast schon wieder stilisiert wirkt. Ein Körper bricht zusammen, liegt am Boden, bewegt sich nicht mehr, während sich die Körper um ihn herum weiterbewegen. Diese ganz simple Trennung wirkt ungewohnt befremdlich. Der Tod hat etwas Stump­fes, er sieht klein aus, doch man spürt umso heftiger, dass das genaue Gegenteil der Fall ist.

Der Film »Auf der anderen Seite«, der auf dem diesjährigen Filmfestival in Cannes den Drehbuchpreis gewann, ist der zweite Teil der so genannten »Liebe, Tod und Teufel-Trilogie«, und Akin hat viel unternommen, den Vorgängerfilm »Gegen die Wand« hinter sich zu lassen. Er zeigt nun mit ruhigen Bildern deutlich mehr Gespür für Raum, und der Film wirkt trotz der Dichte an tragischen Ereignissen erstaunlicherweise nie überladen. Die Unmittelbarkeit und Authentizität des Kiezfilms ist einem distanzierten Blick gewichen, vorbei ist auch die Zeit der expressiven Gesten und Dialoge, des Zelebrierens von Posing und Vulgärsprache. Nejat, die männliche Hauptfigur, ist ein sanfter und beherrschter Intellektueller, ein Professor, der Goethe lehrt und kein Liebesleben zu haben scheint. An die Stelle der Mikropolitik von Familie und Kiez treten gewichtige, politische Themen: die deutsche Asylpolitik, die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei, das türkische Justizsystem, politischer Widerstand in der Türrückt nie wirklich von seinen Figuren ab und verfängt sich dadurch erst gar nicht in allgemeinen, politischen Aussagen. Auf diese Weise wirkt selbst die etwas plumpe Diskussion zwischen Lottes Mutter (»Maybe it’s getting better once you are in the European Union.«) und Ayten (»Fuck the EU!«) nicht daneben. Aber es gibt auch kurze und präzise Momente, die weit über das Private hinausgehen. Als vor Aytens Augen einige politische Aktivisten von der Polizei verhaftet werden, applaudiert die zuschauende Menge – angeblich eine Reaktion ganz ohne Regieanweisung.

In einer Szene erzählt Nejat Susanne vom islamischen Opferfest, von dem Propheten Ibrahim, der von Gott beauftragt wurde, seinen Sohn zu opfern. Als Kind habe er sich immer vor dieser Geschichte gefürchtet, wobei sein Vater ihm einmal versichert habe, er würde sich sogar mit den Göttern anlegen, um ihn zu retten. Diese Geschichte gebe es im Christentum auch, sagt Susanne und fragt Nejat nach seinem Vater. Beide scheinen plötzlich einen gemeinsamen, christlich-islamischen Hintergrund zu teilen. An dieser Stelle weht dann doch auffällig die Fahne der Völkerverständigung. Aber »Auf der anderen Seite« wird für kurze Zeit auch eine universale Parabel über Tod und Vergebung. Am Ende sind Akins Figuren aufgehobener als zuvor, wo sie doch eigentlich viel verloren haben. So hat der Tod in diesem Film etwas seltsam Tröstliches.

»Auf der anderen Seite« (Deutschland 2007). Regie: Fatih Akin, Start: 27. September