Zu dumm für den Weltmarkt

Wissenschaftlich ausgebildete Facharbeiter sind in Deutschland Mangelware – eine Folge des desolaten Bildungssystems. von lutz getzschmann

Arbeitsmarktexperten und Unternehmerverbände klagen seit Jahren über einen Mangel an qualifiziert ausgebildeten Ingenieuren und Informatikern. In einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (DIW) wird davor gewarnt, dass der Fachkräftemangel die Unternehmen allein in diesem Jahr 20 Milliarden Euro kosten könnte. Der Verband der Ingenieure (VDI) spricht von 24 000 Stellen, die nicht besetzbar seien. Während der VDI einen verstärkten Mangel an Arbeitskräften vor allem im Baugewerbe und in der Chemieindustrie sieht, fehlen nach Angaben des DIW vor allem Mathematiker und Informatiker. Hingegen sieht das der Bundesagentur für Arbeit angegliederte Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zwar Eng­pässe in einzelnen Branchen und Regionen, beschwichtigt aber: »Es gibt momentan keine Anzeichen dafür, dass die gesamtwirtschaftliche Entwicklung durch einen allgemeinen Arbeitskräftemangel massiv beschränkt wird.«

Den zunehmenden Mangel an Akademikern be­trachten allerdings auch die Arbeitsmarktforscher des IAB als massives Problem. Während der Bedarf an Arbeitskräften mit regulärer Berufsausbildung als gleichbleibend eingeschätzt wird und ein starker Rückgang an gering quali­fizierten Jobs prognostiziert wird, wird nach Auffassung des Instituts die Zahl der Hochschulabsolventen spätestens ab 2015 nicht mehr ausreichen, um die Bedürfnisse der Unternehmen nach universitär ausgebildetem Personal zu stillen. Die Autoren der IAB-Studie sehen derzeit »we­nig Anzeichen für eine Bildungsexpansion in Deutsch­land« und sprechen sich für »mehr Chancengleichheit im Bildungsbereich« aus. Angesichts verheerender Ergebnisse vergleichender Bildungsstudien und der mittlerweile in zahlreichen Bundesländern eingeführten Studiengebühren ist so eine Aussage durchaus als vorsichtig vorgetragene Kritik an der herrschenden Bildungspolitik zu lesen.

Wenn das DIW, dessen Studien in aller Regel exakt auf die Interessenlagen der deutschen Industrie zugeschnitten sind, dennoch bereits für die Gegenwart eine Alarmstimmung verbreitet, die von anderen Instituten nicht recht geteilt wird, stellt sich natürlich die Frage, worauf dieser publizistische Vorstoß zielt. Im IT-Branchendienst silicon.de mutmaßt der Autor Hermann Gfaller, dass eine zentrale Motivation in der Senkung der Zuwanderungshürden für hochqualifizierte Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern zu sehen sei. Diese müssen derzeit ein Jahresgehalt von 85 000 Euro nachweisen, um eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Bereits kurz nach Veröffentlichung der DIW-Studie kündigte Bundesforschungsministerin Annette Schavan an, dass die Bundesregierung plane, diese Hürde auf 40 000 Euro im Jahr zu senken. Gfaller schließt daraus, dass »die jetzt lancierte Studie und die Forderung nach einer Senkung der Zuwanderer-Einkommen verhindern sollen, dass hierzulande die Gehälter für Fachleute steigen«. Beziehungsweise dafür sorgen sollen, dass sie deutlich sinken – kann wohl ergänzt werden.

Die Debatte um den Mangel an hochqualifizierten Fachkräften spiegelt die Probleme der internationalen Arbeitsteilung im globalen Kapitalismus wider. Der Niedergang alter Industrien in Europa und mit ihnen des klassischen Massen­arbeiters, aber auch des handwerklich und industriell ausgebildeten Facharbeiters, gründet sich auf der massiven Industrialisierung in Ländern wie Indien, China und Indonesien. International tätige Konzerne lassen in Sonderwirtschaftszonen zu besonders günstigen Konditionen produzieren, IT-Dienstleistungen, Softwareentwicklung, Forschung, Verwaltungs- und Finanzangelegenheiten jedoch regelt man weiterhin lieber hier. Während US-Firmen in den vergangenen Jahren auch Call-Center nach Delhi oder Bangalore verlegten, ist dies für deutsche Konzerne – vor allem in Bereichen mit starker Inlandsorientierung – keine Option. Die Ansiedlung deutscher Unternehmen in den neuen industriellen Boomregionen der Welt beschränkt sich größtenteils auf die Weiterverarbeitung von Rohstoffen und die Produktion von Einzelteilen.

Die komplizierteren und auf qualifizierte Arbei­ter angewiesenen Aspekte des Produktionsprozesses finden in den meisten Branchen nach wie vor innerhalb der EU statt. Hier gibt es tatsächlich einige strukturelle Probleme, die der optima­len Verwertung menschlicher Arbeitskraft im Wege stehen und sich in den nächsten Jahren noch verschärfen dürften. Demografische Faktoren wie der Rückgang der Bevölkerung im erwerbs­tätigen Alter wirken sich langfristig besonders drastisch bei den Beschäftigten mit Hochschulabschluss aus. Nur rund 20 Prozent eines Jahrgangs erwerben in Deutschland einen Hochschul­abschluss. Tendenziell gehen die Studierendenzahlen weiter zurück, hinzu kommen hohe Studienabbrecherquoten gerade in Studiengängen wie Informatik, Maschinenbau, Ingenieurwesen und Elektrotechnik, die besonders für die Lenkungs- und Kontrollfunktionen der Produktion gefragt sind.

Der neue Arbeitertypus in den Metropolen, der zwar den Facharbeiter nicht ersetzen, dessen Qualifikation und Rolle in der Produktion aber teilweise entwerten wird, hat einen international anerkannten Hochschulabschluss, Fremdsprachenkenntnisse, ist flexibel und stellt geringe Anforderungen an Bezahlung, Arbeitsbedingungen und geregelte Arbeitszeiten. In Deutschland wurden jedoch während des IT-Booms in den späten neunziger Jahren massenhaft Stu­dien­ab­brecher und erwerbslose Facharbeiter in Schnellkursen zu Webdesignern und Netzwerkadminis­tratoren ausgebildet. Sie verloren in großer Zahl ihre Jobs, als die Euphorie schlagartig vorbei war. Mit ihren begrenzten Qualifikationen haben sie nicht mal mehr als Seiteneinsteiger eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt. Denn die Verwissen­schaftlichung der Produktion verlangt zunehmend nach wissenschaftlich ausgebildetem Personal.

Was für Deutschland gilt, betrifft auch Länder wie Italien oder Ungarn. Gerade in Deutschland jedoch ist die Politik im Hinblick auf Bildung und Qualifizierung in Teilen auch für das Kapital kontraproduktiv. Die EU-Kommission spielt hier die Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten, der den störrischen Einzelkapitalen – also in diesem Fall den migrations- und integrationsfeindlichen Regierungen von EU-Ländern wie Deutschland – versucht, ihre eigenen Interessen nahezubringen.

Ob die »Blue Card« in dieser Form und jetzt durch­gesetzt wird oder nicht, langfristig dürfte sie kommen. Denn die EU bestimmt zunehmend den Rahmen, in dem die Moderation der Kapitalinteressen stattfindet. Und für diese ist die selektive Einwanderung ein dringendes Erfordernis, auch in Konkurrenz zu den USA. Das Manager Magazin stellt fest: »Von allen unqualifizierten Arbeitskräften, die ihr Heimatland verlassen, gehen derzeit 85 Prozent in die EU, aber nur fünf Prozent in die USA. Bei den qualifizierten Arbeits­kräften ist es genau umgekehrt: 55 Prozent wandern in die USA ein, nur fünf Prozent in die EU.« Die EU wird sich als konkurrierendes Zentrum der kapitalistischen Weltwirtschaft auf Dauer nur dann halten können, wenn es gelingt, diese Zahlen deutlich zugunsten der eigenen Unter­neh­mensbedürfnisse zu verändern.