Der amerikanische Patient

In seinem neuen Film »Sicko« sagt Michael Moore viel Bekanntes über die Gesundheits­versorgung in den USA. Dabei trifft er aber doch wieder nur den Gegner von gestern. Die Misere im Gesundheitswesen ist nicht nur ein Produkt der privaten Krankenversicherung. Längst gibt es in den USA andere Modelle. von markus ströhlein

Während auf den Internationalen Filmfestspielen in Cannes im Mai der Großteil der 2 000 Anwesenden etwa 15 Minuten lang applaudierte, hielten sich die kanadischen Journalisten nach der Premiere von »Sicko«, dem neuen Film von Michael Moore, auffällig zurück. Den Grund für die ablehnende Haltung konnte man in den folgenden Tagen der kanadischen Presse entnehmen. »Michael Moore lässt das kanadische Gesundheits­system so großartig aussehen, dass es nicht überraschen würde, wenn Premierminister Stephen Harper im nächsten Wahlkampf DVDs des Films verteilen würde«, urteilte The Star aus Toronto.

Zwar reichen die Zuschauerzahlen nicht an den Erfolg von Moores vorangegangenem Film »Fahrenheit 9/11« heran. Dennoch zeigen die recht beachtlichen Zahlen in den USA, dass die Einwände aus dem Nachbarland das amerikanische Publikum nicht stören. Michael Moore geht es in »Sicko« nach eigenen Angaben darum, ein »kaputtes System bloßzustellen«, das Gesundheitswesen der USA. Und dafür erhielt er sogar von ungewöhn­licher Stelle Zuspruch.

Der konservative Nachrichtensender Fox News lobte den Film als »brillante und erbauliche Dokumentation«, in der »durchschnittliche Amerikaner ihre Horrorgeschichten« erzählten. Für viele US-Bürger ist das Gesundheitssystem ein Grauen, 65 Prozent leben mit der dauerhaften Befürchtung, ihre Krankenversicherung zu verlieren. Mehr als 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden im Gesundheitssektor ausgegeben, in keinem anderen Land ist der Anteil so hoch. Kein anderer Staatshaushalt gibt jährlich pro Einwohner mehr Geld für die Gesundheit aus. Dennoch leben 15 Prozent der US-Bürger dauerhaft ohne Krankenversicherung. Die Amerikaner befinden sich, was ihren physischen und psychischen Zustand angeht, nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter 191 Nationen auf Platz 72.

Wohl weniger wegen der statistischen Angaben als wegen ihrer persönlichen Erfahrungen teilen die meisten US-Bürger Michael Moores Befund. Um zu der Erkenntnis zu kommen, geht der Regisseur in »Sicko« weniger aufdringlich vor als sonst. Der Film ist natürlich Agitprop und Satire, aber zunächst, und das ist doch wirklich erstaunlich, eine Dokumentation. In den ersten 40 Minuten ist Moore selbst überraschenderweise gar nicht zu sehen.

Stattdessen erzählen Betroffene ihre Geschichten. Ein nicht krankenversicherter Zimmermann berichtet, wie er nach einem Unfall an der Kreissäge vor die Wahl gestellt wurde, entweder für 12 000 Dollar den Ringfinger oder für 60 000 Dollar den Mittelfinger zu retten. Ein älteres Ehepaar muss zur Tochter in die Abstellkammer ziehen, nachdem die Krebstherapie der Frau und die Behandlung des herzkranken Mannes die beiden in den Ruin getrieben hatten. Vielen anderen Kranken werden lebensnotwendige Maßnahmen von den Versicherungen verweigert.

»Wir müssen den Zuschauern nicht lange erklären, wie schlecht das System ist«, hat Moore seinem Team zu Beginn der Dreharbeiten gesagt. Das mag auf das Publikum in den USA zutreffen. Ein europäischer Zuschauer kann zwar das Skandalöse der Fälle nachvollziehen, zumal die Kamera sich keine Träne entgehen lässt und Geigen stimmungsvoll das Elend untermalen. Aber es gilt: viel Emotion, wenig Information.

Wer hat außerhalb der USA schon einmal von den Health Maintenance Organizations (HMO) gehört, die Moore in seinem Film hauptsächlich für die Misere verantwortlich macht? HMO ist die Bezeichnung für eine privatwirtschaftliche Krankenversicherung, die bestimmte gesetzliche Vorgaben erfüllen muss, um zugelassen zu werden. In der Tat tun sich diese Unternehmen durch nicht unbedingt der Gesundheit förderliche Praktiken hervor: Versicherte dürfen meist nur die Ärzte aufsuchen, die vertraglich mit der HMO verbunden sind. Spezialisten können erst nach der Überweisung durch einen Hausarzt aufgesucht werden. Umfangreiche Behandlungen müssen in einem langen bürokratischen Prozedere genehmigt werden. Noch dazu verweigern die Versicherer die Aufnahme häufig mit abstrusen Verweisen auf Vorerkrankungen.

Doch Moore arbeitet sich am falschen Gegner ab. 2004 hatten HMOs nur noch einen Marktanteil von 25 Prozent. 55 Prozent entfielen auf die Preferred Provider Organizations (PPO), die eine freie Arztwahl zulassen und Therapien schneller bewilligen. So war schon im März 2005 auf dem »National Managed Health Care Congress« in Washington der Titel einer Podiumsdiskussion: »Sind die HMOs tot?«

Unklar bleiben in »Sicko« auch die Wechselwirkungen der Gesetzgebung, der staatlichen Finanzierung und des privaten Gesundheitssektors. Viele working poor verdienen immer noch zu viel, um in Medicaid, der staatlichen Gesundheitsfürsorge für Menschen mit geringem Einkommen, aufgenommen zu werden. Sie neigen deshalb dazu, Krankheiten zu verschleppen und erst im letzten Moment die Notaufnahme aufzusuchen. Der Emergency Medical Treatment and Active Labor Act (EMTALA) verpflichtet Kliniken, eine Notfallbehandlung vorzunehmen. Die Kosten werden von staatlicher Seite jedoch nur unzureichend gedeckt, was für Krankenhäuser teils ruinöse Folgen haben kann und die Bereitschaft, nicht liquide Notfallpatienten aufzunehmen, auch nicht gerade fördert.

Diese widersprüchlichen Bedingungen lassen sich nur schwer mit Moores Tenor vereinbaren, der lautet: »Wir müssen die privaten Versicherungsunternehmen ausschalten!« Die Forderung des Regisseurs nach einer universellen Krankenversicherung für alle Bürger kann man freilich nur unterstützen. Dass ein verstaatlichtes Gesundheitssystem ein Land nicht zwangsläufig in ein Reich der Putzmunteren verwandeln muss, kommt Moore aber nicht in den Sinn.

Einigermaßen absurd ist es in »Sicko« deshalb, dass der Filmemacher einer US-Amerikanerin nach Kanada folgt, der von Medicaid das Geld für eine Behandlung verweigert wurde. Die Frau erhält dort die erforderliche Therapie. Moore entdeckt die Segnungen des staatlichen kanadischen Gesundheitswesens. Dabei liegt das kanadische System in der Rangliste der WHO nur wenige Plätze vor dem der USA. Lange Wartelisten für spezielle Behandlungen sorgen dafür, dass die Heilungs­chancen bei Krebserkrankungen in den Vereinigten Staaten sogar höher sind.

Das beeindruckt Moore ebenso wenig wie die Missstände im britischen National Health Service (NHS). Während viele Engländer eine schwere Grippe fürchten, weil die wegen fehlender Kapazitäten in Krankenhäusern schon mal tödlich enden kann, findet der Regisseur nur lobende Worte. In Frankreich bewundert er vor allem die Fürsorge für junge Mütter, deren Wäsche sogar von staatlichen Kräften erledigt wird. Von diesem Vorbild inspiriert inszeniert er einen kleinen Marsch auf das Kapitol mit den Worten: »Mal sehen, ob die Regierung meine Klamotten wäscht!«

Das größte satirische Kabinettstück gelingt ihm jedoch mit schwer erkrankten 9/11-Helfern, denen die ärztliche Hilfe in den USA verweigert wird. Auf einem Boot steuern Moore und die Betroffenen die US-Militärbasis Guantánamo auf Kuba an. Über ein Megaphon fordert Moore Einlass und die Behandlung seiner Begleiter in den bestens ausgestatteten medizinischen Einrichtungen des Stützpunkts, die sonst nur den in den Augen des Regisseurs unwürdigen Internierten zur Verfügung stehen. Selbstverständlich erhält das Filmteam keinen Zutritt. Und so landen Moore und die Kranken schließlich in Havanna, wo ihnen ein herzlicher Empfang und eine hervorragende medizinische Versorgung zuteil werden. Dass der Film dabei den irrationalen, gegen Kuba gerichteten, traditionellen Antikommunismus in den USA angreift, ist durchaus löblich. Aber auch in der kubanischen Propagandaabteilung wird Freude darüber herrschen, dass in unzähligen Kinos überall auf der Welt das Image des Landes aufpoliert wird.

Die Zahl der Gesundheitsflüchtlinge, die sich mit dem Boot von Florida nach Kuba aufmachen werden, dürfte sich dennoch auch nach »Sicko« in Grenzen halten. So stellt sich am Ende die Frage: Was will Moore eigentlich bezwecken? Er prangert Umstände an, deren Skandalträchtigkeit niemand bestreitet. Er legt Alternativen nahe, die bei genauerer Betrachtung recht zweifelhaft erscheinen. Schlüssig wird der Film deshalb erst gegen Ende. Der Regisseur hebt zur finalen Mahnung an: »In anderen Ländern übernimmt man Verantwortung füreinander, über alle Unterschiede hinweg. Die Menschen dort leben in einer Welt des ›Wir‹ und nicht des ›Ich‹.« Die abschließenden Worte, und nicht nur sie, verströmen den Mief der autoritären Sozialdemokratie: Der Gemeinschaftssinn soll den krank machenden Individualismus im Zaum halten. Papa Staat wäscht vielleicht sogar die schmutzigen Socken der Bürger. Und wenn alle brav sind, spielt Yusuf Islam zur Belohnung ein Liedchen. Er darf dann auch tatsächlich nach Moores Schlusspredigt mit »Don’t be shy« den Abspann einleiten.