Gerade das Politische macht die Kunst im Verhältnis zur Gesellschaft belanglos

Die Hamburger Ausstellung »Gesellschaftsbilder. Zeitgenössische Malerei« beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Malerei und Gesellschaft und behauptet, dass Kunst und Politik zwei unterschiedliche Ausformulierungen des Sinnlichen seien. Von Roger Behrens

edes Wort des Ausstellungstitels sollte ernst genommen werden und ist durchaus als Provokation zu verstehen: nicht, weil diese Überschrift und die in ihrem Namen gezeigte Kunst tatsächlich einen Skandal verursachen würde, sondern weil im Gegenteil eben weder Worte noch Werke der Kunst heute irgendeine Empörung, Irritation oder gar Attacke gegen den Betrieb bedeuten. Im integrierten Spektakel ist nichts mehr spektakulär. Und genau darauf richtet sich die Provokation. Es ist insofern eine Provokation der Kunst gegen sich selbst, mit ihren eigenen Mitteln, wenn man so will letztlich der Versuch einer Bestandsaufnahme, die von der drastischen Frage motiviert ist, ob Kunst heute überhaupt noch in irgendeinem relevanten und signifikan­ten Verhältnis zur Gesellschaft steht.

Mit diesem großen Komplex schließt der Kurator Yilmaz Dziewior in mehreren Aspekten an die Gruppenausstellung »Formalismus. Moderne Kunst, heute« an, die 2004 im Kunstverein in Hamburg gezeigt wurde. Der Begriff Formalismus verweist zurück auf die Avantgarden der russischen Revolution; zugleich war er damals Gegenbegriff zum sozialistischen Realismus, der 1932 zur ästhetischen Doktrin erhoben wurde; und natürlich hat es etwas Naives, heute und mit Berufung auf dieses Heute von »Moderner Kunst« zu sprechen – bei Künstlern, die sich selbst und ihre Arbeiten als modern bezeich­nen, weiß man, wie unmodern sie sind, und kein Kunststudent wäre gut beraten, wenn er seine Abschlussarbeit dem Komitee als »Moderne Kunst« präsentiert. Doch gerade in der Konfron­tation mit einem aktualisierten Begriff des Formalismus gelang es vor drei Jahren im Kunstverein, mit der Ausstellung grundsätzliche Fragen der Kunst zu formulieren, das heißt Pro­bleme der Moderne zu reflektieren, die bislang eher verdrängt als gelöst wurden. Und dies wird jetzt gleichsam im Wechselspiel mit den Konzepten – Formalismus versus Realismus, moderne Kunst heute versus zeitgenössische Malerei – fortgesetzt.

Auch die Ausstellung »Gesellschaftsbilder. Zeit­genössische Malerei« führt zunächst in ihrer In­tention in die revolutionäre Hochzeit der Moder­ne, in die zwanziger und dreißiger Jahre. Hier ist es jetzt der Realismus und die mit ihm verbundenen Schwierigkeiten, die aktualisiert wer­den sollen. Die – nur scheinbar die Exponate spezifizierende – Formulierung »Zeitgenös­sische Malerei« verweist dabei ähnlich wie »Mo­derne Kunst, heute« auf einen durchdachten Anachronismus. Nachdem die Malerei mehrfach für tot und obsolet erklärt wurde und das Zeitgenössische mit all seinen Implikationen an historischen Geltungsansprüchen ohnehin unbeliebt ist, gleich beides zu reaktivieren und dann noch in den Kontext der ästhetischen Grund­frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft einzubinden, ist ein beacht­liches Unterfangen. Dass es damit nicht getan ist, ist selbstverständlich: Keine Kunst lässt sich damit rechtfertigen, dass man ihren Namen wiederholt.

Messen lassen muss sich dieses Projekt an den gezeigten Arbeiten. Auffällig wird schon beim ersten Blick, dass sich die Malerei längst vom definierten Rahmen der Leinwand gelöst hat, vom Format ebenso wie vom spezifisch malerischen Material: Das macht sie hier zeitgenössisch. Von Minerva Cuevas und Gunter Reski werden monumentale Wandbilder gezeigt, von Victor Man auch eine Installation. Es wird auf Aluminium gemalt, wie bei Johannes Wohnseifer, mit PVC und Fotokopien gearbeitet, wie bei Dierk Schmidt, oder mit Schrift, wie bei Wawrzyniec Tokarski. Zeitgenössisch verwandelt sich aber auch die klassische Form der Malerei. Fast schon akribisch muten die großformatigen Frei­luftbilder von Caroline von Grone an – von ihr sind u. a. Bilder der Serie »Steinstraße« zu sehen: eine unwirtliche Straßenunterführung gleich vor dem Eingang des Kunstvereins. Auf keiner der gezeigten Arbeiten, auch nicht bei Eberhard Havekost, Wilhelm Sasnal und Corinne Was­muht, ist »Gesellschaft« in der Weise zu sehen, wie man es vielleicht erwartet, wenn man zum Beispiel an den fotojournalistischen Realismus denkt (das sind übrigens künstlerische Repräsentationen von Gesellschaft, die in der Pressestadt Hamburg durch die zahlreichen Fotojahresausstellungen sehr verbreitet sind).

Allgemeiner gesagt haben diese Gesellschafts­bilder mit dem sozialen Realismus in seiner gan­zen Vielfalt, nach denen Menschen heute ihre Bilderwelten formen, gar nichts zu tun. Vielmehr beschränkt sich – in je unterschiedlichen Aspek­ten – der Realismus, der in den in der Ausstellung gezeigten Arbeiten als roter thematischer Faden sich durchzieht, auf die soziale Struktur, auf die Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Auffällig ist dabei, wie weit sich diese zeitgenössische Malerei aus diesen Verhältnissen bereits herausgenommen hat und Gesellschaft gleichsam nur noch in einer Außen­perspektive widergespiegelt wird, wenn überhaupt. Damit büßt die Malerei allerdings das ein, was ihr als moderne Kunst einmal wesentlich war und sie als solche zeitgenössisch mach­te: ihren Erkenntnis­charakter. Die Gesellschafts­bilder sind keine Konstruktion von Wirklichkeit mehr und in diesem Sinne Gesellschaft kon­stituierend, sondern bloß Abbilder eines der Kunst äußerlich bleibenden Sozialen.

Hier versucht nun die Ausstellung konzep­tuell einzugreifen, indem sie gerade die gestörte Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft, die ansonsten gerne kuratorisch verschleiert und museal verleugnet wird, offen behandelt. Der Katalog ist diesmal keine eigenständige, teure Publikation, sondern eine umfangreiche Beilage zur Oktober-Ausgabe der Stadtillus­trierten Szene Hamburg, in der alle in der Ausstellung ver­tretenen Künstler ausführlich vorgestellt werden; der die Beilage sozusagen kommentierende Essay von Kerstin Stakemeier verdeutlicht darüber hinaus indes, warum die mit der Ausstellung »Gesellschaftsbilder« berührte Problematik merkwürdig paradox bleibt und weder von der Kunst allein, noch von der Gesellschaft, wie sie ist, zu lösen ist. In ihrer historischen Re­konstruktion des Realismus, die bereits 1855 mit Gustave Courbet beginnt, weist Stakemeier nach, wie die Moderne und mit ihr die bürgerliche Kul­tur an ihren eigenen Ansprüchen scheitert: nicht nur, weil materielle Kräfte den humanen Idealismus, der in der Kunst den ihm zugewiesenen Bereich hat, vereiteln, sondern auch, weil den hier ins Feld geführten Begriffen im Verlauf der Moderne jedwede Schärfe und Schlagkraft abhanden gekommen ist. Gerade in eine Konstellation wie bei dieser Ausstellung gebracht, besit­zen »Gesellschaft«, »Bild«, »Kunst«, »Realität« etc. als Begriffe kaum noch die nötige reflexive Kraft, um über ihre unmittelbare, gemeine und alltagssprachliche Plausibilität hinaus zu gelan­gen.

Weitere Begriffe, die mit in die Debatte genom­men werden, bringen dann nur scheinbar Klärung und führen eher zu Verwirrungen, die im Jargon schnell zum neuen Theoriemodell verbrämt werden. Die Kunst, die sich an Bilder und weniger an Begriffe hält, ist dabei besonders anfällig für Moden, die mit philosophischem Talmi und wortgewaltigen Phrasen angereichert sind. Die neueste Mode hier ist »das Politische«.

Ausgerechnet »das Politische« verfehlt die Provokation, die allein schon im Titel der Ausstellung liegt. Das instabile Verhältnis von Kunst und Gesellschaft wird durch »das Politische« nicht gestützt, sondern gestutzt. Der wie auch immer erweiterte Politikbegriff – im Konzept der Ausstellung beruft man sich auf Jacques Rancière – kommt über das nach wie vor enge Verständnis von »Politik« nicht hinaus: Poli­tische Kunst ist schließlich die, die irgendwie »in­terventionistisch« ist, und das ist sie, wenn sie mit den Logos multinationaler Konzerne arbeitet. Die Hoffnung wird wahrscheinlich sein, der Kunst durch das Politische eben die infrage stehende Relevanz und Signifikanz zurückzugeben. Es passiert genau das Gegenteil: Gerade das Politische macht die Kunst im Verhältnis zur Gesellschaft belanglos. Hier ist ein nega­tiver Realismus gefordert, der auf die Abschaffung der Kunst hinausläuft. Das könnte auch heißen, die Begriffe zu negieren, welche die Gesellschaftsbilder einschränken und bis zur Bedeutungslosigkeit nivellieren. Man sollte sich von der Illusion der Kunst befreien und sie damit politisch machen, statt die Kunst durch die Illusion der Politik zu unterdrücken.

Gesellschaftsbilder. Zeitgenössische Malerei. Hamburger Kunstverein. Bis 30. Dezember