Als sei mein Kopf aus Eis

In einem radikalen Sprachexperiment schildert der niederländische Autor J. Bernlef den Prozess der Alzheimer-Erkrankung aus der Innensicht eines alten Menschen. Zugleich erzählt er die berührende Liebesgeschichte eines alten Ehepaars. In Holland wurde das Buch »Bis es wieder hell ist« ein Bestseller. Es begreift Altersdemenz nicht als Krankheit und Ausnahmefall, sondern zeigt sie als Status quo und alltägliche Herausforderung. Von Jürgen Kiontke

Der Ich-Erzähler Maarten in J. Bernlefs Roman »Bis es wieder hell ist« ahnt, was kommt: »Vielleicht kommt es vom Schnee, dass ich mich morgens schon so müde fühle.« Bei der Müdigkeit wird es nicht bleiben. »Ich«, das wird bald klar, ist im Frühstadium der Alzheimer-Krankheit.

»Ich rühre mit dem Löffel in der Tasse, genau wie sie. Ein vertrautes Klirren von Metall gegen dünnes Porzellan.

›Ist was?‹, fragt sie mit einem forschenden Blick.

›Nein‹, sage ich. ›Wieso?‹

›Heute morgen hast du deinen Kaffee kalt werden lassen. Und ich habe dich mindestens zweimal gebeten, Holz aus der Bude zu holen. Aber der Einzige, der mit einem Stück Holz im Maul zurückkam, war Robert.‹«

Wobei Robert der Hund ist. Wenig später Vollbild. Kein Kontakt mehr zur Umwelt, zum eigenen Körper und Denken. Hell wird es nicht mehr. Dazwischen liegt das Sprachexperiment des holländischen Autors Hendrik Jan Marsman, der »Bis es wieder hell ist« unter Pseudonym 1984 herausbrachte. 1986 erschien erstmals eine deutsche Ausgabe mit dem Titel »Hirngespinste«, insgesamt wurde das Buch 600 000 Mal verkauft.

Was den Text besonders macht: Er war der erste Versuch, die mit Alzheimer verbundene Auflösung der Persönlichkeit aus der Innensicht zu schildern und damit populäre Literatur zu schaffen. Was ein Erkrankter tatsächlich erlebt, außer Gefühlen wie Aggression und Panik, mag dahingestellt sein. Bernlefs Versuch eines inneren Monologs macht jedenfalls den Leidensdruck nachvollziehbar. Seine Verleger sahen das offensichtlich genauso, das Buch ist nun in Neuauflage zu haben.

»›Manchmal kommt er mir wie ein Fremder vor. Dann kann ich ihn nicht erreichen. Es ist ein schreckliches Gefühl der Machtlosigkeit. Er hört mich zwar, aber ich glaube, dass er mich in einem solchen Moment nicht mehr versteht. Er benimmt sich, als sei er allein.‹ Ich verstehe genau, was sie meint. Wütend starre ich ins Vorderzimmer. Ich verliere Worte, wie ein anderer Blut verliert.« – Nach 70 Seiten hat das Vergessen das Sprachzentrum erreicht. Bruchstücke der Erinnerung schwirren durch den Kopf des Erzählers, er wird sich fragen: Wer ist diese Frau?

Dass er 40 Jahre mit ihr verheiratet ist, hat keine Bedeutung mehr. »Ja, ich sehne mich nach der Wollust des Alltäglichen, wenn ein Ding sich aus dem anderen ergibt. Man muss unbedingt das Leben ausfüllen. Ich habe immer noch die Sprache. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich zum ersten Mal meine Mutter belog.«

Das Verstehen soll alsbald verglimmen, die Sprache, derzeit noch als Privatbesitz identifiziert, wird verloren gehen. Der Autor muss sich etwas einfallen lassen. Um die Gedankenwelt seines Protagonisten darzustellen, sind Auslassungspunkte das Mittel der Wahl: »Ein großes weißes Blatt Papier … eine Hand … eine Frauenhand … eine Frauenhand mit einer Holzschachtel … « Ein System nach dem anderen verabschiedet sich.

Wir bleiben am Ball. Noch ein paar Jahre und unser Kopf benimmt sich genauso. Dass wir dieses Buch gelesen haben, ändert herzlich wenig. Wie alles andere – den Namen, die Kinder, die Beine – werden wir es vergessen haben. Wie wir die ganze Zeit haben herumlaufen können, wird uns ein Rätsel sein.

Alzheimer drängt sich der Literatur als Sujet förmlich auf. Die Darstellung eines Patienten braucht keine Logik, keinen Zusammenhang, keinen Plot und keine Ereignisse. Es ist beinahe erstaunlich, dass sich Bernlef mit einer Rahmenhandlung abgibt. Sein Erzähler hat bei einer Hafenbehörde gearbeitet, er ist dem Zweiten Weltkrieg entkommen, er ist von Holland in die USA ausgewandert, seine Frau heißt Vera, die Kinder leben in Amsterdam. Seine Sprache ist seit ewigen Zeiten Englisch, aber es macht schlapp wie auch die räumliche Orientierung: »Hier raus … weiß nicht, von welcher Seite die Welt auf mich eindringt … es muss doch eine Richtung geben? … jeder Raum hat doch einen Eingang und einen Ausgang … ?«

Solche Gewissheiten schwinden. Maarten steht upside down, und so wird er auch stehenbleiben. »Mir sei nur, als sei mein Kopf durchsichtig; aus Glas oder Eis, ganz hell, obwohl ich an nichts dächte« – »Lies ein bisschen«, sagt Vera. »Oder löse das Rätsel.«

Das Bizarre: Bernlef begreift die Erkrankung Maartens als Tragödie einer Liebesbeziehung. Immerhin: Wenn man so lange zusammengelebt hat wie Maarten und Vera, ist es sehr traurig, wenn der Mann seine Ehefrau nicht mehr erkennt. Echt tragisch ist dies aber nicht, eher handelt es sich um eine Farce, denn etwas Banales rafft den Helden dahin.

Dass das Leben selbst seine eigene Infragestellung hervorbringt, ist gewissermaßen so lächerlich wie die Symptome der Krankheit selbst, die zugleich sprachlich so hochinteressant sind: Degeneration wichtiger Nervenzellen, Schrumpfung des Gehirns, infogedessen Wiederholen der immer gleichen Sätze, Reden mit Toten, Verlegen von Dingen des alltäglichen Gebrauchs bei gleichzeitiger Gewissheit, dass sie jemand geklaut hat, Vernachlässigen des Äußeren – und nicht zuletzt ein gespaltenes Verhältnis zu Geld.

Heilung ist nicht in Sicht, aber die Experten munkeln, Fernseh- und Zigarettenkonsum seien dem Krankheitsverlauf negativ förderlich, ein hohes Bildungsniveau hingegen wirke sich günstig aus. In einem Durchschnittsland wie Deutschland sind zirka eine Million Menschen betroffen. Dass es – Thema Pflegenotstand – ein Problem ist, was die Gesellschaft mit all den Dementen tun wird, steht außer Frage.

Man kann also sagen: Bernlef hat mit »Bis es hell ist« Maßstäbe gesetzt. Mittlerweile ist das Thema Alzheimer in die Literaturgeschichte eingesickert, zum Beispiel durch Jonathan Franzens Roman »Die Korrekturen«. Auch das Kino hat es entdeckt. Sarah Polleys »Away From Her« schildert, wie sich nach Jahrzehnten eine Liebesbeziehung auflöst (der Film basiert auf einer Kurzgeschichte von Alice Munro). Übrigens kann kein Mensch erklären, warum der Film in Österreich und der Schweiz im Mai 2007 im Kino lief und in Deutschland bisher nicht mal ein Starttermin vorliegt. So schön allerdings wie bei der Demenzkranken, die Julie Christie in »Away From Her« spielt, geht es nicht zu in »Bis es wieder hell ist« – und auch bei weitem nicht so sauber. Der Demente Maarten ist relativ früh dabei, auch seine Körperfunktionen zu vergessen. Arztbesuche und häusliche Pflege spiegeln sich hier irgendwie noch im prismatischen, zerrissenen Erkennen des Erzählers, wenn er auch nicht weiß, wer all die Personen um ihn herum sind, einschließlich der eigenen Person. Offensichtlich ist Geld da für die Betreuung daheim, das wäre auch noch ein paar Stufen abwärts gegangen: miese Behandlung durch angeekeltes Personal, Alte jagen mit Polizei und Fixierung.

Es gibt Leute, die angesichts solcher Literatur und solcher Filme zu richtiger Medizin raten. Für Panik im Alltag Tavor 1.0. Ein Posten in der Arztrechnung könnte aber auch sein: Über das Thema Demenz ist durchaus eine Renaissance des Klassikers Kunst und Krankheit möglich.

J. Bernlef: Bis es wieder hell ist. Aus dem Niederländischen von Maria Csollány. Nagel & Kimche, München 2007, 168 S., 17,90 Euro