Back to school

In Deutschland können mehr als vier Millionen Menschen nicht richtig lesen und schreiben – trotz der Schulpflicht. Der Bund gibt vor allem Geld für die Forschung zum Thema Analphabetismus aus. Dabei gibt es immer noch viel zu wenig Lese- und Schreibkurse. Von Jana Brenner

Die Frage heute lautet: Wie viele Bundesländer gibt es in Deutschland? Die zehn Erwachsenen in dem Klassenzimmer in Berlin-Neukölln grübeln. »So 20 bis 30«, schätzt Georg*. »Repu­blik, was heißt das?« fragt sein Nachbar. Die Teilnehmer des Kurses beim Lesen und Schreiben e.V. sind teilweise älter als 50 und lernen jetzt, nach jahrzehntelanger Arbeit in einfachen Berufen, lesen und schreiben. Auch elementare Kennt­nisse über die Welt, in der sie leben, stehen auf dem Stundenplan. Urda Thiessen ist Lehrerin bei dem Verein. »Bundesländer sind für viele schon außerhalb des Vorstellbaren. Ein Teilnehmer hat mich mal gefragt, ob man für eine Fahrt nach München einen Reisepass braucht.«

Mehr als vier Millionen Menschen können nach Angaben des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung nicht genug lesen und schreiben, um den Alltag alleine bewältigen zu können. Die Unesco zählt sogar vier bis sieben Millionen so genannte funktionale Analphabeten. Zuverlässige Schätzungen sind auch deswegen schwierig, weil es keine einheitlichen Krite­rien gibt, wie viel man können muss, um nicht als funktio­naler Analphabet zu gelten. Fest steht aber, dass jährlich Zehntausende Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen. Im Jahr 2006 waren es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 78 000. Viele von ihnen haben viel zu wenig in der Schule gelernt, andere vergessen das wenige schnell wieder.

Analphabetismus trotz Schulpflicht, das gibt es. Auch Jugendliche mit Schulabschluss können mit der so genannten Schriftsprache oft nichts anfan­gen. »Fakt ist, dass die Erwachsenen, die jetzt in Alphabetisierungskursen sind, es in der Schule nicht richtig gelernt haben«, sagt Peter Hubertus, der Geschäftsführer des Bundesverbands. Die Grundlagen im Lesen und Schreiben werden in den ersten beiden Klassen gelegt. Danach gibt es in der Schule nicht mehr die Möglichkeit, in Ruhe von vorne anzufangen.

Ist die Schulzeit, ob mit oder ohne Abschluss, vorbei, gehen die Probleme erst richtig los. Die Jungen kriegen keinen Ausbildungsplatz, weil sie die Einstellungstests überhaupt nicht schaffen. Die Älteren werden als ungelernte Arbeiter zuerst entlassen, wenn die Unternehmen in Schwie­rig­keiten geraten. Ganz abgesehen von den ökonomischen Problemen haben funktionale An­alpha­beten im alltäglichen Leben mit vielen Hindernissen zu tun. In einer fremden Stadt Bus fahren, von einer unbekannten Bank Geld abheben, Formulare ausfüllen – Situationen, die nicht alltäglich sind, die man also nicht auswendig lernen kann, sind alleine kaum zu bewältigen. Mit verschiedenen Strategien mogeln Analphabeten sich durch, immer in der Angst, entdeckt und dann ausgegrenzt zu werden. Denn Situationen, in denen man lesen muss und somit als Analpha­bet schlichtweg versagt, gibt es zuhauf. »Analpha­beten gelten als dumm oder geistig behindert«, sagt die Geschäftsführerin von Lesen und Schreiben e.V., Marie-Luise Oswald. Also drückten sie sich vor Situationen, in denen sie »auffliegen« könnten.

Meist suchen sich die Betroffenen eine Vertrauens­person, die für sie Briefe liest, Anträge ausfüllt oder aufpasst, dass der Stromableser nicht zu viel aufschreibt. Die Abhängigkeit von diesen Personen ist dementsprechend groß. Eine weitere Mogel-Strategie heißt »Täuschung« und wird zum Beispiel im Restaurant angewendet. Erst tut man beim Blick in die Speisekarte so, als ob man lesen würde, dann wartet man, bis die anderen bestellen, und verlangt das Gericht, das sich am Leckersten anhört: »Für mich bitte das Gleiche.«

Sich dazu durchzuringen, das Analphabetentum öffentlich zu machen und zu einem Kurs zu gehen, ist extrem schwierig und passiert meistens erst dann, wenn es zu einer einschneidenden Veränderung kommt. Dazu kann der Verlust der Vertrauensperson gehören oder der plötz­liche Wegfall des Jobs. Viele Eltern wollen lesen und schreiben lernen, wenn ihre Kinder eingeschult werden, damit sie bei den Hausaufgaben helfen können.

Bei den Kursen im Lesen und Schreiben e.V. geht es dabei wirklich so zu wie in der Schule. »Die Teilnehmer wollen Frontalunterricht«, sagt Urda Thiessen. Und das, obwohl die meisten nicht die besten Erinnerungen an ihre Schulzeit haben. Der Unterschied zur Regelschule: Hier wird alles so lange erklärt, bis es jeder verstanden hat. Wenn es dann noch nötig ist, geben ­Ehrenamtliche Einzelnachhilfe.

Lese- und Schreibkurse werden hauptsächlich von den Volkshochschulen (VHS) angeboten. 300 von 971 der Schulen bieten Alphabetisierungskurse an. Die Nachfrage nach den Kursen steigt, sagt Anja Thöne vom Deutschen Volkshochschul-Verband. Neben den Volkshochschulen organisie­ren freie Träger Programme. Die Versorgung mit Angeboten ist Oswald zufolge allerdings mise­rabel, insbesondere auf dem Land, wo es meistens gar keine Kurse gibt. Insgesamt besuchen nach Angaben des Deutschen Volkshochschul-Verbands bundesweit 20 000 Erwachsene Lese- und Schreibkurse. Im Vergleich zu der Zahl von vier Millionen hört sich das wie ein schlechter Witz an.

Obwohl das Phänomen seit fast 30 Jahren bekannt ist (die ersten Kurse wurden 1978 eingerichtet), kommt für die Betroffenen kaum Hilfe. »Ein Mitarbeiter des Arbeitsamtes in Neukölln hat mir mal gesagt: Hier gibt es keine Analphabeten«, sagt Marie-Luise Oswald, die seit 1983 mit Analphabeten in dem Bezirk arbeitet. Der Verein hangelt sich von Projekt zu Projekt. »Seit zwei Jahren kämpfen wir ums Überleben«, sagt Urda Thiessen.

Zwar ist das vorrangige Problem für Analphabeten die gesellschaftliche Ausgrenzung. Aber nicht zuletzt die Wirtschaft hat ein enormes Inter­esse daran, dass Arbeitskräfte lesen und schreiben können. Nur so können sie in den Arbeitsprozess eingegliedert werden. Die Unesco untersuchte den Zusam­menhang von Wirtschaftswachstum und Alphabetisierungsrate. Das Ergebnis: Je mehr Menschen lesen und schreiben können, desto besser geht es der Wirtschaft. Auch das Bun­desministerium für Bildung und Forschung sorgt sich haupt­sächlich um die »verringerten Chancen auf dem Arbeitsmarkt«. Diese wurden gleich als erster Punkt in einer Pressemitteilung zum diesjährigen Alphabetisierungstag im September genannt. Erst danach kamen die Aspekte der Lebensqualität und der gesellschaftlichen Integration. Das Ministerium gibt vor allem Geld für die Forschung im Bereich Grundbildung aus: 30 Millionen Euro macht Ministerin Annette Scha­van jetzt locker. Die Förderung der praktischen Kampagnen des Bundesverbands läuft hingegen Ende des Jahres aus.

*Name geändert