Aus dem Paradies vertrieben

Der Bund der Vertriebenen wird 50 Jahre alt. Ein Rückblick auf fünf Jahrzehnte Revanchismus. Von Jan Langehein

Um Vertriebener zu sein, muss man nicht vertrieben worden sein. Der Status ist erblich, es reicht, auf Vorfahren verweisen zu können, die irgendwann einmal unfreiwillig ihren Wohnort verlassen mussten. Diese Sichtweise erklärt, warum sich der Bund der Vertriebenen (BDV) als Lobby einer Bevölkerungsgruppe, deren jüngste Vertreter mittlerweile locker das Rentenalter erreicht haben, nach wie vor einen Jugendverband hält. Sie ist die Basis, auf der der BDV 50 Jahre nach seiner Gründung seine Zukunft aufbauen und damit die Zukunft einer revanchistischen Ostpolitik sichern will. Auch wenn der letzte tatsächlich Vertriebene gestorben ist, wird der BDV weiterhin in verklausulierter Form deutsche Ansprüche an den Gebieten hochhalten, die Deutschland in Folge des Zweiten Weltkriegs abtreten musste.

Gegründet hat sich der Verband am 27. Oktober 1957, seine Geschichte begann allerdings bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch Nazi-Deutschlands. Rund zwölf Millionen so genannte Heimatvertriebene waren es, die die Bundesrepublik und die DDR nach ihren Gründungen in ihre Gesellschaften integrieren mussten – angesichts der zerstörten Infrastruktur und der am Boden liegenden Wirtschaft eine gewaltige logistische Aufgabe. Die erste Welle der Vertriebenen bestand aus Flüchtlingen, die ab dem Jahr 1944 vor der heranrückenden Roten Armee Richtung Westen flohen; nach 1945 kamen diejenigen dazu, die auf Grundlage des Potsdamer Abkommens und der Benes-Dekrete in das verbliebene Deutschland umgesiedelt wurden. In den westlichen Besatzungszonen und später in der Bundesrepublik begannen die Vertriebenen schnell, sich in so genannten Landsmannschaften zu organisieren.

Im Jahr 1950 trafen sich diese Verbände in Stuttgart zum ersten »Tag der Heimat«, auf dem sie eine gemeinsame Charta verabschiedeten – ein Papier, das in schwülstigem Deutsch einige Grund­sätze und Ansprüche formuliert, und das so vage gehalten ist, dass es noch heute, unter völlig veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, verwendet werden kann. Bis heute halten sich die Vertriebenenfunktionäre auch zugute, in der Charta sei ein Verzicht auf revanchistische Ansprüche ausgedrückt; ein Blick in den Text straft diese Behauptung allerdings Lügen. Dort heißt es lediglich: »Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.«

Eine perfide Formulierung: Der Vernichtungskrieg der Wehrmacht mutiert zum »unendlichen Leid«, dessen Subjekt keineswegs Nazi-Deutschland war, sondern »das letzte Jahrzehnt«. Die Ursache der Umsiedlung wird zum Verschwinden gebracht; die Vertriebenen erscheinen nicht als potenzielle deutsche Täter, sondern lediglich als Leute, die gemeinsam mit der ganzen Menschheit unter einem schlechten Jahrzehnt gelitten haben. Anders als dem Rest der Menschheit, so muss man das lesen, wurde ihnen danach aber durch die Umsiedlung noch mal eigens übel mitgespielt. Worauf die Vertriebenen in ihrer Charta großherzig verzichten, sind nun keineswegs Ostpreußen, Pommern oder Schlesien, sondern lediglich Racheaktionen an Polen, Russen und Tschechen.

Am Anspruch auf die verlorenen Länder im Osten hält die Charta implizit fest: »Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.« Das »Recht auf Heimat« zu verwirklichen, kann im Kontext der Charta nur heißen, den Umgesiedelten »ihre« Heimat wiederzugeben.

Entsprechend dieser Maxime fiel auch die Politik des BDV aus, der 1957 aus dem Zusammenschluss zweier getrennter Verbände hervorging und seitdem den Alleinvertretungsanspruch für die Belange der Vertriebenen besitzt. Erster alleiniger Präsident des Verbands war ab dem Jahr 1959 ein CDU-Funktionär namens Hans Krüger, der es im Kabinett von Ludwig Erhard zum Vertriebenenminister brachte. Eben dieser Hans Krüger war ein Nazi der ersten Stunde, was ihm nach entsprechenden Hinweisen aus der DDR schließlich den Posten kostete. Bereits im Jahr 1923 hatte er an Hitlers »Marsch auf die Feldherrenhalle« teilgenommen. Während des Krieges leitete er in Polen ein Sondergericht, das Zeugenaussagen zufolge innerhalb weniger Wochen an die 2 000 Menschen umbringen ließ. Einer der Überlebenden sagte später bei einer polnischen Untersuchung: »Nach jeder Visite durch Krüger im Gefängnis wurden die Inhaftierten sortiert und ein Teil von ihnen zur Hinrichtungsstätte in das ›Tal des Todes‹ gefahren, wo sie ermordet wurden.« Und solche Leute erklären sich generös bereit, auf »Rache« zu verzichten!

Die revisionistische Politik setzte der BDV auch unter Herbert Czaja fort, der den Verband von 1970 bis 1994 leitete. Er polemisierte nach der Wiedervereinigung gegen die im 2-plus-4-Vertrag festgeschriebene Anerkennung der polnischen Westgrenze. Auf dem »Tag der Oberschlesier« im Jahr 1992 rief er ins Publikum: »Anpasser, Maulwürfe, Wühlmäuse, Verzichtler gibt es überall! Aber wir lassen uns unser Oberschlesien nicht nehmen, weder von Warschau noch von Bonn!«

Czaja stritt stets ab, Teile Polens für Deutschland zu beanspruchen, was für ihn allerdings lediglich bedeutete, dass er das Nachkriegspolen nie anerkannt hat. Ihm gehe es »um ein Viertel von jenem Deutschland, das der Versailler Vertrag uns belassen hat, (…) um alte deutsche Provinzen, Regionen und Stämme, in denen über acht Jahrhunderte Deutsche unerhört Wertvolles geleistet haben.« Eine völkische Weltanschauung, die ganz zu der Charta von 1950 passt, in der die Landsmannschaften ebenfalls als »Glieder unseres Volkes« bezeichnet werden.

Von Erika Steinbach, der derzeitigen Präsidentin des Verbandes, bekommt man derartige offen revanchistische Tiraden nicht zu hören. Sie wurde 1943 geboren und ist die erste Präsidentin des Verbands, die die Umsiedlung nicht mehr bewusst miterlebt hat. Seit ihrer Amtsübernahme im Jahr 1998 versucht sie sich an einer Art Vertriebenenpolitik neuen Typs: Analog zum rot-grünen Ansatz, Auschwitz als Vehikel für die aktuelle Außenpolitik zu benutzen, will sie die konkrete, historische Erfahrung der Umsiedlung zum allgemeinen Argument für eine Politik »gegen Vertreibungen« machen. Scheinbar löst sie sich damit vom Revisionismus ihrer Vorgänger, die immer ganz konkret »ihr« Land zurückhaben wollten.

Von der »Preußischen Treuhand«, die enteigneten deutschen Besitz zurückfordert, hat sie sich distanziert, und als eine polnische Zeitung aufdeckte, dass Steinbach keineswegs Spross einer alteingesessenen westpreußischen Familie ist, sondern Tochter eines Soldaten aus Hanau, der erst im Krieg nach Danzig zog, reagierte sie gelassen: »Denen, die jetzt sagen, ich sei gar keine echte Heimatvertriebene, antworte ich: Ich würde mir wünschen, dass unser nächster Vorsitzender überhaupt keine familiäre Verbindung zu dieser Geschichte hat. Die Sache geht ohnehin alle Deutschen etwas an.« Und alle Deutschen, so Steinbachs Credo, hätten wegen der Vergangenheit den Auftrag, künftige Vertreibungen zu verhindern; »ethnische Säuberungen« wie im Jugoslawienkrieg etwa. Die Kinder der Vertriebenen sollen als Stellvertreter ihrer Eltern diese Politik betreiben.

Diese Arbeit will Steinbach von ihrem »Zentrum gegen Vertreibungen« aus koordinieren, und spätestens an diesem Zentrum wird klar, wie doppelbödig die neue Linie im BDV ist. Selbstverständlich soll hier die Vertreibung der Deutschen im Mittelpunkt stehen und als Mahnung gegen zukünftige vergleichbare Geschehen fungieren. Und damit setzt das Zentrum die Umsiedlung in einen Sinnstiftungszusammenhang, der in der deutschen Gedenkpraxis bislang den NS-Verbrechen vorbehalten ist.

»Dass nichts Ähnliches sich wiederhole«, diesen Satz könnte Steinbach auch an die Tür ihres Zentrums schreiben lassen. Auf wesentlich elegantere Weise gelingt ihr so das, was auch die Charta mit ihrem perfiden Verzicht auf »Rache« erreichen wollte: Die Täter verschwinden. Wie Polen, Russen und Juden, so sind auch die Vertriebenen Opfer widriger Umstände. Und den Polen reicht Steinbach, die Tochter eines Besatzungssoldaten, großzügig die Hand zur Versöhnung.

Dass Polen eine solche Geschichtsklitterung nicht einfach hinnehmen will und wütend gegen das »Zentrum gegen Vertreibungen« protestiert, kann sie nicht nachvollziehen. Aber sie ist sogar bereit, ihre Darstellung als SS-Offizierin in einer Karikatur in einer polnischen Zeitung zu vergeben: »Ach, wissen Sie, ich kann einfach keinen Groll empfinden. Letztlich müssen die Polen selber damit klarkommen.« Der BDV unter Erika Steinbach ist milde gestimmt: Er geifert nicht mehr wie unter Krüger und Czaja, sondern er lächelt verbindlich. Er hat den Polen endlich verziehen, dass die Deutschen sie überfallen haben.