Vom Sympathisantensumpf ins Wunderland

Der »Deutsche Herbst« war eine Offensive gegen die radikale Linke. Verschwunden ist damals jedoch die liberale Öffentlichkeit. von jörn schulz

Eigentlich sollte in Kalkar ein Atomreaktor Strom und Plutonium produzieren. Doch auf dem Gelände tummeln sich nun Kinder im Freizeitpark »Wunderland Kalkar«. Das alles so gut enden würde, weil die SPD-Regierung Nordrhein-Westfalens nach der Fertigstellung im Jahr 1985 die Genehmigung für das unpopuläre Kraftwerk verzögerte, bis die Stromindustrie auf die Inbetriebnahme verzichtete, ahnte niemand unter den etwa 50 000 Menschen, die am 24. September 1977 gegen den Reaktorbau demonstrierten. Auf dem Weg hatten sie meist mehrmals an Kontrollstellen in die Mündungen der Maschinenpistolen blicken müssen, mit denen die Polizisten ausgerüstet waren. Etwa 15 000 Demonstranten blieben in den Kontrollen hängen, Eisenbahnzüge wurden auf freier Strecke von Hubschraubern gestoppt.

Es war die Zeit, die man später als den »Deutschen Herbst« bezeichnen sollte. Dabei hatte das Jahr eigentlich ganz gut angefangen. Die meisten radikalen Linken waren vor allem daran interessiert, nach der Bauplatzbesetzung in Brokdorf im Oktober 1976 den Kampf gegen Atomkraftwerke weiter voranzutreiben. Im März wurden in Grohnde die Polizeisperren durchbrochen, und die etwa 20 000 Belagerer des Bauplatzes hatten schon einige Zaunteile entfernt, als die Kavallerie, Reiterstaffeln der Polizei, den Tag für die Atomindustrie rettete.

Es dominierte die Ansicht, das werde immer so weitergehen. Doch auch wenn die Anschläge der RAF keinen Vorwand für paramilitärische Aufmärsche der Polizei geliefert hätten, war eigentlich nicht zu erwarten, dass die staatlichen Stellen zuschauen würden, wie Zehntausende immer wieder versuchten, einige der wichtigsten Industrieprojekte des Landes zu zerstören. Nach der Machtdemonstration in Kalkar begann die radikale Linke, über die »Grenzen der Massenmilitanz« zu diskutieren.

Wenn in diesem Jahr einmal mehr über den »Deutschen Herbst« fabuliert wird, spielt der gesellschaftliche Kontext, in dem der Konflikt zwischen RAF und Staat stattfand, nur selten eine Rolle. Begünstigt wird diese Sichtweise von den damaligen Kontrahenten. Die RAF sprach 1982 von »der Offensive 77, die sie wie nichts vorher an der Gurgel hatte«, als könne man mit ein paar Attentaten und einer Entführung tatsächlich die Machtfrage stellen. Die damals politisch Verantwortlichen wiederum finden Gefallen daran, ihre Rolle im »Deutschen Herbst« in den Begriffen der antiken Tragödie zu reinszenieren. Die Entscheidung, Hanns Martin Schleyer zu opfern, mag für die Beteiligten tatsächlich ein moralisches Problem gewesen sein. Unvermeidlich war sie nicht. Zwei Jahre zuvor waren im Austausch gegen den Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz Gefangene freigelassen worden, ohne dass das kapitalistische System zusammengebrochen oder auch nur die Stadtguerilla stärker geworden wäre.

Die Entscheidung gegen einen Austausch war eine Entscheidung für den starken Staat. Diese Linie setzte sich 1977 in verschiedenen Bereichen durch, vor allem im Umgang mit der Linken, aber auch gegenüber anderen Gruppen, die als verdächtig galten. So begann in diesem Jahr die Verschärfung der Asylgesetze. Viele Politiker stellten eine Verbindung zwischen der Linken und der RAF her. »Die Abschaffung der Verfassten Studentenschaft und damit der Asten ist ein taugliches Mittel, ein Stück Sympathisantensumpf des Terrorismus trockenzulegen«, begründete Hans Filbinger (CDU), Ministerpräsident Baden-Württembergs, damals seine reaktionäre Universitäts­reform.

»Sympathisant« war ein politischer Kampfbegriff, der eine Distanzierung von der RAF, aber auch jene Haltung der »äußerlich sichtbaren und hörbaren Identifizierung« mit dem Staat erzwingen sollte, die Bundeskanzler Helmut Schmidt bereits 1975 gefordert hatte. Der Begriff unterstellte der RAF eine Avantgarderolle, die sie nie hatte, folgte aber einer nachvollziehbaren Herrschaftslogik. Denn Stadtguerilla und radikale Linke galten als Teil eines Problems, der Weigerung einer Minderheit, sich in das »Modell Deutschland« zu integrieren.

Als »Modell Deutschland« pries die SPD im Wahlkampf 1976 die Ergebnisse der Reformpolitik seit Ende der sechziger Jahre. Die Entkriminalisierung außerehelicher Sexualität, die Mitbestimmung im Betrieb, eine Bildungsreform und zahlreiche andere Maßnahmen gaben dem Übergang vom christlichen Obrigkeitsstaat zum liberalisierten Kapitalismus einen gesetzlichen Rahmen. Alle hatten nun die Chance, im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Spaß zu haben und sich für den Fortschritt im »Modell Deutschland« zu engagieren. Nur wollte das nicht jeder.

Die Zahl der aktiven Linksradikalen dürfte damals bei etwa 100 000 gelegen haben. Die Linke hatte ihren »Sympathisantensumpf«, in Schulen und Universitäten, aber auch in den Betrieben, wo sowohl die diversen kommunistischen Parteien, die überwiegend maoistischen K-Gruppen, als auch die Spontis tätig waren. Krankfeiern und Klauen waren auch vielerorts üblich, wo es an Agitatoren fehlte. Eine akute Gefahr für Staat und Kapital war das nicht, und die Unternehmen machten Profite, obwohl nicht jeder bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit schuftete. Es gab jedoch die Sorge vor »italienischen Verhältnissen«, in Italien hatte die Radikalisierung zu dieser Zeit größere Bevölkerungsgruppen erfasst.

Die staatliche »Offensive 77« folgte keinem strategischen Plan. Die sozialliberale Regierung hatte ihr Reformpotenzial schlicht erschöpft. Nun galt es, mit den unerwünschten Nebenwirkungen fertig zu werden. Es fehlte damals an Druckmitteln, um die Leistungsbereitschaft der Lohnabhängigen zu erhöhen. Wenigstens der offenen politischen Herausforderung durch die radikale Linke aber sollte entgegengetreten werden.

Erste Schritte erfolgten im Frühjahr, als der »Buback-Nachruf« kriminalisiert wurde, obwohl der Autor »Mescalero« die RAF kritisierte. Fast alle Medien folgten der staatlichen Darstellung, als 47 Professoren den Nachruf dokumentierten, wurden sie vom niedersächsischen Innenminister Eduard Pestel (CDU) über die »besondere Treuepflicht« des Beamten belehrt und vor die Wahl gestellt, sich von der Veröffentlichung zu distanzieren oder entlassen zu werden. Nur einer, Peter Brückner, weigerte sich.

Kurzfristig weniger erfolgreich als die Einschüch­terung der akademischen Intellektuellen war das Vorgehen gegen die radikale Linke. Es gab eine Reihe von Ermittlungsverfahren, unter anderem gegen 139 Mitglieder des Verbandes des linken Buchhandels (VLB), denen »verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten« vorgeworfen wurde. In einzelnen Fällen wurden für Meinungsdelikte auch Haftstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren ohne Bewährung verhängt. Zwei Tage nach der Demonstration in Kalkar beschloss der CDU-Bundesvorstand, beim Verfassungsgericht das Verbot der K-Gruppen zu beantragen. Der Antrag führte die einander sonst erbittert bekämpfenden Parteien zu einer gemeinsamen Demonstration am 8. Oktober zusammen, verlief dann jedoch im Sande.

Durch Drohungen und die exemplarische Verfolgung Einzelner sollten ganze Milieus eingeschüchtert werden, eine Reihe neuer Gesetze erleichterten dieses Vorgehen. Massenverhaftungen gab es jedoch nicht. Die Behauptung der RAF, im Herbst 1977 sei jeder gezwungen gewesen, »grundsätzlich neu zur Macht in Beziehung zu treten – oder sich aufzugeben«, gehört in den Bereich der Legendenbildung. Spätestens am 6. Mai 1980, als bei einer militanten Demonstration gegen die erste öffentliche Rekrutenvereidigung seit 1945 drei Bundeswehrfahrzeuge angezündet wurden, war die radikale Linke wieder auf gewohnte Weise zur Macht in Beziehung getreten. Die von Politikern und Medien geschürte Terrorhysterie hatte keine dauerhafte Wirkung. »Zur Zeit von Mogadishu gab es einmal eine kurze Phase, in der unsereiner Angst kriegen konnte«, sagte Peter Brückner 1981 in einem Interview. Doch der Versuch, die Bevölkerung »an ›unseren Staat‹ zu binden, hat offensichtlich nicht funktioniert«.

Die Reaktionen radikaler Linker hatten nur insofern mit dem »Deutschen Herbst« zu tun, als vielen erstmals die potenziellen Risiken klar wur­den. Auch die radikale Linke hatte ihr Potenzial erschöpft und die Integrationskraft des »Modells Deutschland« unterschätzt. Der Rückzug in Land­kommunen oder städtische Alternativprojekte war vor allem eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass die Revolution wohl noch eine Weile auf sich warten lassen würde und es unerquicklich wäre, diese Zeit am Fließband oder auf dem Sozialamt zu verbringen.

Die Krise der K-Gruppen war vor allem eine Folge des bornierten Dogmatismus und der puritanischen Lebensbedingungen, die sie ihren Mitgliedern auferlegten. Weit mehr Menschen verließen den KBW, weil sie zur Finanzierung des neuen Parteihochhauses ihre Stereoanlage verkaufen sollten, als dass sie sich durch staatliche Repression abschrecken ließen. Beide Strömungen, Ökologen und frustrierte Maoisten, gehörten dann zu den treibenden Kräfte bei der Gründung der Grünen, die sich anfangs ja als radikales Projekt verstanden. Die Anpassungsprozesse fanden später und aus anderen Gründen statt.

Der »Deutsche Herbst« steht eher für das Verschwinden kritischer liberaler Intellektueller als für die Schwächung der Linken, die vor allem ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, nicht zuletzt eigenen Fehlern zuzuschreiben ist. Das freiwillige Schweigen fast aller Medien über die SS-Vergangenheit Schleyers bewies damals die Folgsamkeit des gesellschaftlichen Main­streams, wenn die Staatsräson es erforderte.

Die Entscheidung für den starken Staat prägte aber auch ein neues deutsches Selbstbewusstsein. Die Operation der paramilitärischen GSG 9 in Mogadishu war nicht nur der erste bewaffnete Auslandseinsatz seit 1945, sondern ermöglichte es der deutschen Diplomatie, die bei dieser Gelegenheit den somalischen Diktator Siad Barré vom Bündnis mit der Sowjetunion abbrachte, an Einfluss zu gewinnen. »Während der Entführungszeit Hanns Martin Schleyers war die Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal ein Staat im Vollsinn des Wortes«, kommentierte der Geschichtsrevisionist Ernst Nolte.