Friedrich Engels: »Sieg der Barbarei«

Der große Zuspruch für die SVP hat unter den europäischen Nachbarn Diskussionen über den Zustand der Schweizer Gesellschaft ausgelöst. Ein Gespräch mit dem Gesellschaftstheoretiker und Historiker Friedrich Engels.
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Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet in der Schweiz, der Wiege der Demokratie in Europa, eine rückwärtsgewandte Partei wie die SVP solchen Erfolg hat?

Endlich wird dem unaufhörlichen Großprahlen von der »Wiege der Freiheit«, von den »Enkeln Tells und Winkelrieds« ein Ende gemacht! Endlich hat es sich herausgestellt, dass die Wiege der Freiheit nichts anders ist als das Zentrum der Barbarei und die Pflanzschule der Jesuiten, dass die Tapferkeit von Sempach und Murten nichts anders war als die Verzweiflung brutaler und bigotter Bergstämme, die sich störrisch gegen die Zivilisation und den Fortschritt stemmen!

Sehen Sie gar kein emanzipatorisches Poten­zial in der Schweiz?

Das Haus Österreich war ein einziges Mal in seiner ganzen Karriere progressiv; als es sich mit den Spießbürgern der Städte gegen den Adel alliierte und eine deutsche Monarchie zu gründen suchte. Es war progressiv in höchst spießbürgerlicher Weise, aber einerlei, es war progressiv. Und wer stemmte sich ihm am entschiedensten entgegen? Die Urschweizer. Der Kampf der Urschweizer gegen Österreich, der glorreiche Eid auf dem Grütli, der heldenmütige Schuss Tells, der ewig denkwürdige Sieg von Morgarten, alles das war der Kampf störrischer Hirten gegen den Andrang der geschichtlichen Entwicklung, der Kampf der hartnäckigen, stabilen Lokalinteressen gegen die Interessen der ganzen Nation, der Kampf der Rohheit gegen die Bildung, der Barbarei gegen die Zivilisation. Sie haben gegen die damalige Zivilisation gesiegt, zur Strafe sind sie von der ganzen weiteren Zivilisation ausgeschlossen worden.

Aber das ist ja nun alles eine Weile her …

Seitdem hat man wenig mehr von ihnen gehört. Sie beschäftigten sich in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit mit Kühemelken, Käsemachen, Keusch­heit und Jodeln.

Die SVP steht aber auch für die direkte Demokratie, für Volksabstimmungen, die in der Schweiz seit jeher eine große Bedeutung haben.

Von Zeit zu Zeit hielten sie Volksversammlungen, worin sie sich in Hornmänner, Klauenmänner und andre bestialische Klassen spalteten und nie ohne eine herzliche, christlich-germanische Prügelei auseinander gingen. Sie waren arm, aber rein von Sitten, dumm, aber fromm und wohl­gefällig vor dem Herrn, brutal, aber breit von Schultern und hatten wenig Gehirn, aber viel Wade.

Ist die große Zustimmung für die SVP Ausdruck einer traditionalistischen, konservativen Grundhaltung der Schweizer?

Der größte Stolz dieser vierschrötigen Urschweizer war von jeher, dass sie nie von den Gebräuchen ihrer Vorfahren auch nur um ein Haarbreit gewichen sind, dass sie die einfältige, keusche, biderbe und tugendsame Sitte ihrer Väter im Strome der Jahrhunderte unverfälscht bewahrt haben.

Die SVP beansprucht für sich aber die Zivilisation zu verteidigen, gegen alles Fremde.

Jeder Versuch der Zivilisation ist an den granitnen Wänden ihrer Felsen und ihrer Schädel ohnmächtig abgeprallt. Seit dem Tage, wo der erste Ahne Winkelrieds seine Kuh mit den unumgänglichen idyllischen Schellen am Halse auf die jungfräulichen Triften des Vierwaldstätter Sees trieb, bis zu dem jetzigen Augenblick, sind alle Häuser auf dieselbe Weise gebaut, alle Kühe auf dieselbe Weise gemolken, alle Zöpfe auf dieselbe Weise geflochten, alle Käse auf dieselbe Weise verfertigt, alle Kinder auf dieselbe Weise gemacht worden. Hier auf den Bergen existiert das Paradies, hier ist man noch nicht bis zum Sündenfall gekommen.

Sie halten die Schweizer offenbar nicht für besonders weltoffen?

Wenn einmal ein solch unschuldiger Alpensohn in die große Welt hinaus gerät und sich einen Augenblick hinreißen lässt von den Verführungen der großen Städte, von den geschminkten Reizen einer verderbten Zivilisation, von den Lastern der sündhaften Länder, die keine Berge haben und wo Korn gedeiht – die Unschuld wurzelt so tief in ihm, dass er nie ganz untergehen kann. Ein Ton schlägt an sein Ohr, nur zwei jener Noten des Kuhreigens, und sofort stürzt er weinend und zerknirscht auf die Knie, sofort reißt er sich los aus den Armen der Verführung und ruht nicht, bis er zu den Füßen seines greisen Vaters liegt. »Vater, ich habe gesündigt vor meinen Urgebirgen und vor Dir, ich bin nicht wert, dass ich Dein Sohn genannt werde!«

Die Antworten entstammen dem Aufsatz »Der Schweizer Bürgerkrieg« von Friedrich Engels, erschienen in der »Deutschen-Brüsseler-Zeitung« Nr. 91 vom 14. November 1847. Eine Kollage von Ivo Bozic