Bedrohte Mehrheit

Die Kurden in der Türkei sind seit vergangener Woche gewalttätigen Übergriffen aufgebrachter Nationalisten ausgesetzt. Welches Verhältnis die Angegriffenen zur PKK haben, spielt dabei keine Rolle. von sabine küper-büsch, istanbul

Umgeworfene Regale, zertrampelte Tomaten und verschüttete Reiskörner bedecken den Boden. Abdurrahman Sayli steht zitternd vor den Überresten seiner beruflichen Existenz. Sein Großvater kam bereits 1925 aus dem südostanatolischen Mardin nach Bursa, einer reichen Industriestadt 90 Kilometer südlich von Istanbul. Die kurdische Familie machte im Westen ihr Glück. Innerhalb eines Nachmittags fegten Hunderte von fahnen­schwen­kenden, ultranationalistischen Hooligans durch ihre zwei Supermärkte und zerstörten die Einrichtungen, während sie: »Das Vaterland wird nicht geteilt, die gefallenen Soldaten sind unsterblich« brüllten. Wer das Gerücht, die Saylis unterstützten die PKK, in die Welt gesetzt hat, kann sich die Familie nicht erklären. Eine Gruppe von 20jährigen marschiert an dem verwüsteten Laden vorbei, ihre Gesichter sind rot gefärbt, auf der Wange prangt ein weißer Stern, das Motiv der türkischen Fahne. »Liebt die Heimat oder verlasst sie«, rufen sie angriffslustig.

Ursprünglich vom französischen rechtsextremen Front National entwickelt, ist dieser Slogan das Motto der ultrarechten Nationalistischen Bewegungspartei (MHP), die bei den Parlamentswahlen im Juli 14 Prozent erreichte und mit 71 Mandaten in der türkischen Nationalversammlung vertreten ist. Parteiführer Devlet Bahceli hatte im Wahlkampf die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) aufgefordert, den auf der Insel Mudanya im Marmarameer lebenslänglich inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan »endlich an den Galgen zu bringen«.

Der Geschäftsmann Abdurrahman Sayli hat AKP gewählt, weil die Regierungspartei eine Lösung der Minderheitenproblematik im Rahmen der Anpassungsbestrebungen an die EU-Normen propagiert. Nun fühlen sich Leute wie er von der ultranationalistischen Stimmung in der Türkei bedroht. Nachdem innerhalb von vier Wochen über 40 Soldaten im Kampf gegen die PKK gefallen sind, demonstrieren Hunderttausende in der gesamten Türkei für ein hartes Durchgreifen. In Bursa wallte der zornige Nationalismus auf, als der Soldat Samet Sarac beerdigt wurde, der von PKK-Militanten am 21. Oktober in Hakkari getötet worden war. Im nahen Ferienort Ayvalik wurde das Gebäude der prokurdischen »Partei für eine demokratische Gesellschaft« (DTP) abgebrannt, landesweit finden Übergriffe auf Einrichtungen der DTP statt.

In den von Kurden besiedelten südöstlichen Provinzen grassiert die Angst vor einer erneuten Eskalation des so genannten Kurdenkonflikts. In der Provinzhauptstadt Diyarbakir forderten am Wochenende Vertreter von 62 Verbänden, darunter der einflussreiche Menschenrechtsverein, die PKK auf, die Waffen niederzulegen, um eine Militäroperation zu verhindern. Die PKK-Einheiten sollen nach Angaben der Internetzeitung Bianet.org aus etwa 5 000 Militanten bestehen, ungefähr 2 000 davon werden in Camps in den Bergen des Nordiraks vermutet. Die türkische Armee gab am Wochenende bekannt, dass sie mitt­lerweile an 62 Punkten Operationen gegen mutmaßliche PKK-Stellungen durchführe.

Aysel Tapan, Mitglied der prokurdischen DTP, rührt nervös in ihrer Teetasse. Vor dem Gebäude des Istanbuler Parteibüros parkt eine Polizei­streife, um Übergriffe zu verhindern. »Ich fürchte mich vor einer Explosion des Nationalismus auf beiden Seiten«, seufzt die 42jährige. Zurzeit wächst der öffentliche Druck auf die Partei. Ministerpräsident Tayyip Erdogan forderte sie vergangene Woche auf, die PKK als Terrororganisation zu verurteilen. Doch der Parteivorsitzende Ahmet Türk entgegnete, dass sie mit einer solchen Verurteilung einen Teil der kurdischen Basis brüskieren würden, vor allem jene, die ebenfalls Opfer zu beklagen hätten.

Ahmet Türk wurde 1994 mit anderen kurdischen Politikern wie Leyla Zana verhaftet und wegen Unterstützung der PKK zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten verurteilt. Bis zu den Parlamentswahlen im Juli gab es seither keine parlamentarische Vertretung der kurdischen Minderheit. Erst durch die Aufstellung unabhängiger Kandidaten gelang es der DTP, die Zehn-Prozent-Hürde zu umgehen und 23 Kandidaten via Direktmandat in die Nationalversammlung zu entsenden. Die derzeitige nationalistische Stimmung wird es der Partei allerdings schwer machen, prokurdische Politik zu betreiben. Ultranationalistische Bevölkerungsschichten empfinden bereits die Thematisierung von Minderheitenrechten als Bedrohung. »Manchmal habe ich den Eindruck, es wird gar keine Lösung angestrebt«, klagt Aysel Tapan. Damit meint sie die türkische Regierungspolitik, doch trifft diese Feststellung ebenso auf die kurdische Miliz und die DTP selbst zu. Mit der Forderung nach einer Lösung der Kurdenfrage verbindet die DTP derzeit eine Generalamnestie für die PKK, eine für die Türkei absolut unakzeptable Forderung.

Für die nordirakischen Kurden aber sind gute Beziehungen zur Türkei strategisch und wirtschaftspolitisch wichtig. Der Präsident der autonomen Kurdenregion im Nordirak, Mesut Bar­zani, forderte die Kämpfer der PKK am Wochenende zunächst auf, das Land zu verlassen. Gleichzeitig betonte er jedoch ihr Recht auf Selbstverteidigung, sollte die türkische Armee im Nord­irak einmarschieren. Während türkische Medien wie das Massenblatt Hürriyet eine Verschiebung der irakischen Grenze zugunsten der Türkei und die Einrichtung einer Pufferzone fordern, hoffen die nordirakischen Kurden auf eine Vermittlung durch die USA. Am 5. November reist Regierungschef Tayyip Erdogan zu Gesprächen nach Washing­ton. Zwar betonte er in den vergangenen Wochen mehrfach, dass er angesichts von 23 Nordirak-Operationen in den vergangenen 15 Jahren kein Interesse an einer weiteren habe. Allerdings sitzt ihm der türkische Generalstab im Nacken, der verkündete, man werde abwarten, bis Erdogan aus Washington zurückgekehrt sei.

Zweifel kursieren hinsichtlich des Auslösers der derzeitigen Terrorwelle. Der türkische Politikwissenschaftsprofessor Baskin Oran stellt auf Bianet.org die Frage, ob die gefallenen Soldaten wirklich bei Terroranschlägen und nicht bei einem durch Aushebungsoperationen des Militärs ausgelösten Gefecht mit der PKK getötet wurden.

In der grenznahen Provinz Hakkari kam es in der Vergangenheit schon mehrfach zu zweifelhaften Aktionen im Namen des Anti-Terror-Kampfs. In Semdinli, in der Provinz Hakkari, explodierte am 9. November 2005 ein Sprengsatz im Buch­laden »Umut« (Hoffnung), der einen Kunden tötete. Es stellte sich heraus, dass Unteroffiziere der Jandarma, die ein Teil der türkischen Streitkräfte sind, und nicht die PKK die Drahtzieher waren. Es kam zu einem Prozess, den die AKP als Markstein des Demokratisierungsprozesses hätte nutzen können. Stattdessen wurde der ambitionierte, die Hintergründe des Anschlags recherchierende Staatsanwalt suspendiert. Damit wurde zwar ein Konflikt mit dem Militär vermieden, die Lösung der innenpolitischen Probleme aber nur verschoben.

Zurück in Bursa erschreckt ein Transparent, auf dem zu lesen ist: »In zehn Tagen haben wir 40 Soldaten verloren, wir wollen keine Armenierpropaganda, wir sind Türken und Soldaten«. Wenn die Minderheiten zur Zielscheibe der nationalistischen Welle werden, haben die Terroranschläge in der Türkei ihr Ziel der Destabilisierung erreicht.