Kleiner Grenzverkehr

Bislang war die föderale Idee im Irak eine Perspektive jenseits des bornierten Nationalismus. Ein Erstarken der großkurdischen Ideologie könnte den Nordirak in seiner Entwicklung weit zurückwerfen.

Wer erwartet hatte, dass sich die irakisch-türkische Grenze bei Habur in einem Kriegsgebiet befindet, sah sich vergangene Woche so enttäuscht wie jene internationalen Fernsehteams, die am Grenzübergang gelangweilt herumlungerten, weil sie nichts zu berichten hatten. Bald könnte es an dieser Grenze sogar noch ruhiger werden, wenn die Türkei Ernst macht und Wirtschaftssanktionen gegen den Irak und die kurdische autonome Region verhängen sollte. Auch ist geplant, einen zweiten Grenzübergang zu eröffnen, der über syrisches Territorium direkt zum Grenzübergang von Rabiah führen soll, welcher von der Bagdader Zentralregierung kontrolliert wird.

Bislang nimmt die kurdische Regionalregierung Millionen Dollar durch anfallende Zölle ein. Fast 50 Prozent aller irakischen Importe erreichen den Irak über die Türkei: eine Einnahmequelle, die neben dem Öl die proftitabelste in den kurdischen Gebieten des Irak darstellt. Überhaupt ist man hier weit mehr von der Türkei abhängig, als man offiziell zugestehen möchte. Die Großstadt Dohuk etwa wird mit türkischem Strom versorgt, viele der in den Supermärkten erhältlichen Produkte stammen aus dem nördlichen Nachbarland; Straßen, Universitäten und Privathäuser werden fast ausschließlich von türkischen Unternehmen gebaut. Kurz, Sanktionen würden die Autonomieregion sogar weit härter treffen als der Einmarsch türkischer Soldaten.

Das vor ein paar Jahren noch völlig unterentwickelte türkisch-kurdische Grenzgebiet profitiert enorm von dem regen Grenzverkehr. Die ersten Opfer eines Boykotts wären die Kurden. Deshalb, so der britische, in Istanbul ansässige Journalist Nicolas Birch, hätten die Kurden in der Osttürkei kein Interesse an einem Krieg. Obwohl die PKK in jüngster Zeit einen gewissen Zulauf aus Kreisen frustrierter Jugendlicher verzeichne, schwände ihre Beliebtheit, seit die türkische Regierung mit verhaltenen Reformen begonnen habe. Man erhoffe sich nun einen Wandel durch die, der Kurdenfrage eher aufgeschlossene islamische AKP und die kurdische DTP, die nun erstmals im Parlament vertreten ist. Auch Analysten der türkischen Zeitung Zaman führen die neuesten Attacken der PKK auf schwindende Unterstützung zurück. Die Organisation wolle so erneut in die Schlagzeilen kommen, und die einzige Möglichkeit hierfür läge in terroristischen Aktionen.

Neben solch nachvollziehbaren Analysen existieren auch Verschwörungstheorien, die beispielsweise von der nationalistischen MHP vertreten werden: Masud Barzani, Präsident der kurdischen autonomen Region, nutze die PKK mit Unterstützung der USA, um ein Großkurdistan auf Kosten der Türkei zu schaffen. Der Führer der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, forderte sogar, gleich auch Barzani und den Peshmerga den Krieg zu erklären. Hingegen vermutete der irakische Außenminister Hoshiar Zebari, ein Kurde, in Newsweek, dass es der Türkei nur vordergründig um den Kampf gegen die PKK gehe. In Wirklichkeit wolle Ankara einen weiteren Aufbau der irakisch-kurdischen Autonomieregion blockieren und die Region destabilisieren.

Die gegenseitigen Beschuldigungen verweisen auf eine der zentralen, bislang ungelösten Zukunftsfragen der Region. Die Türkei nämlich fürchtet, dass sich vor allem Masud Barzani als Führer Großkurdistans zu profilieren versucht und sich damit den Positionen der PKK annähert. Längst bezeichnet er sich als Präsident Kurdistans und nicht des irakisch-kurdischen Bundesstaats. Sollte sich innerhalb der irakisch-kurdischen Parteien langfristig eine Strömung durchsetzen, die den Status quo lediglich als Übergangslösung zur vollen Eigenstaatlichkeit und das kurdische Gebiet im Irak quasi als Agentur des grenzüberschreitenden kurdischen Unabhängigkeitskampfes betrachtet, so sind die Sorgen der Türkei nachvollziehbar. Denn es war gerade die Idee einer föderalen Lösung im Irak und den Nachbarländern mit großem kurdischem Bevölkerungsanteil, die 2003 eine Perspektive jenseits des bornierten, im Nahen Osten vorherrschenden Nationalismus anbot.

Die USA dulden diesen Schwebezustand. Obwohl die PKK in Washington als Terrorgruppe gilt, werden ihre Lager im Nordirak nicht angegriffen, der iranische PKK-Ableger PJAK wird wohl sogar logistisch aus Amerika unterstützt. Die Spekulationen darüber sind naheliegend, da die von irakischem Territorium aus geführten Angriffe auf iranische Truppen dem Interesse der USA entsprechen. Dies ist allerdings ein gefährliches Spiel, in dem die USA auf altbekannte Strategien zurückgreifen, in denen die Kurden instrumentalisiert wurden und für die sie in der Vergangenheit immer einen hohen Preis zahlen mussten. Die vor allem von der CIA und dem State Department betriebene Ethnisierung der iranischen Opposition stößt aber auch in Washington nicht überall auf Unterstützung, vor allem nicht in Kreisen jener Neokonservativen, die weiter an der Idee einer Föderalisierung des Nahen Ostens festhalten.

Im von der PUK regierten Suleymaniah reagieren Intellektuelle eher zurückhaltend auf die aktuelle Krise. So kritisierte etwa Assos Herdi, Herausgeber der unabhängigen Zeitung Awena, die nationalistischen Untertöne in seinem Land. Die heutige Türkei, schrieb er, sei nicht mehr dieselbe wie in den neunziger Jahren, als Tausende kurdische Dörfer systematisch zerstört wurden und man es mit kemalistischen Hardlinern in Ankara zu tun gehabt habe. Man müsse die Veränderungen wahrnehmen und eine politische Lösung anstreben. Nationalistische Massenmobilisierungen und bewaffneter Kampf gehörten der Vergangenheit an.

Die jüngsten Forderungen der Türkei allerdings lehnt man hier als unerfüllbar und völlig unrealistisch ab. Eine Auslieferung hoher PKK-Kader wird weitgehend als Verrat an der kurdischen Sache gesehen. Außerdem ist im Nordirak die Erinnerung an die blutigen Kämpfe der PKK gegen die Peshmerga der irakischen Kurden noch frisch. Unter vorgehaltener Hand bestätigt dies ein hoher Funktionär der KDP, der ungenannt bleiben will: Solange die KDP einen engen Kontakt mit der PKK halte, habe sie einigermaßen Einfluss auf sie und es drohe kein weiterer bewaffneter innerkurdischer Konflikt. Denn in einem ist man sich in den kurdischen Gebieten des Irak sogar mit türkischen Militäranalysten einig: Der Versuch, die PKK durch eine militärische Großoffensive in den unwegsamen Bergen von Qandil zu zerschlagen, ist wenig aussichtsreich.

Eine politische Lösung der Krise mit diplomatischen Mitteln wird deshalb auch im Nordirak gefordert. Und die Türkei scheint, trotz aller martialischer Gesten, dem nicht abgeneigt zu sein. Zu gut weiß man in Ankara, dass eine größer angelegte »Cross Border Operation« nicht nur militärisch, sondern auch politisch in einem Desaster enden könnte. In der unnachahmlichen Diktion türkischer Paranoia ausgedrückt, könnte, mit den Worten von Davut Sahiner in Zaman, die armenische und griechische Lobby die Gunst der Stunde in Europa und der USA für antitürkische Propaganda nutzen. Weitere Spannungen, wenn nicht offene Konflikte mit den USA, wären wohl unausweichlich. Und die EU hätte neue Argumente, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu verzögern.

Schließlich, auch darin herrscht in der Analyse zwischen irakischen Kurden und türkischen Journalisten weitgehend Einigkeit, will die PKK den Einmarsch förmlich provozieren, da sie sich hiervon strategische und politische Vorteile verspricht. Gelänge es der PKK, irakische Kurden, türkische Truppen und Koalitionstruppen in Kämpfe zu verwickeln, wäre es mit der Stabilität im Nordirak vorerst vorbei. Schon jetzt sind, geduldet von der kurdischen Regionalregierung, einige tausend türkische Soldaten auf der irakischen Seite der Grenze stationiert, ohne viel gegen die PKK ausrichten zu können. Im Falle größerer und lang anhaltender militärischer Aus­einandersetzungen käme an der PKK als Hauptakteur niemand mehr vorbei. Diese könnte in einem solchen Szenario mit nationalistischer Propaganda das Fehlen kohärenter politischer Ziele kongenial bemänteln und monatelang die Schlagzeilen beherrschen.

Allerdings könnte der Konflikt auch etwas Gutes mit sich bringen, vorausgesetzt er wächst sich nicht zum Krieg aus: die dringend anstehende Klärung alter Konflikte sowohl im Irak als auch in der Türkei. Früher oder später werden die irakischen Kurden wohl gezwungen sein, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sie es mit dem Föderalismus ernst meinen oder ihn nur als Weg zu einem eigenen Staat sehen. Sollte sich eine großkurdische Ideologie durchsetzen, könnte dies die Kurden um 50 Jahre zurückwerfen. Sie würden damit den Grundfehler ihrer arabischen Nachbarn wiederholen: nichts aus ihrer Geschichte zu lernen.

Die Türkei wiederum entwickelt sich zunehmend zu einer Hegemonialmacht im Nahen Osten. Sie rangiert inzwischen an 18. Stelle der größten Volks­wirtschaften der Welt und steht vor entscheidenden Umbrüchen. Einer davon ist die so genannte Kurden-Frage. Repression und Unterentwicklung des Südostens waren bislang zum Scheitern verurteilte Versuche, die kurdische Existenz zu negieren. Ob unter den geänderten Bedingungen das türkische Establishment allerdings bereit ist, langfristig den Kurden weitgehende Rechte zuzugestehen, ist äußerst fraglich. Und doch, meint jedenfalls Pelin Turgut im Time Magazine, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt.